Georg Hoffmann-Ostenhof: Die Demokratie kam zu früh

Von mutigen Teenagern, einer bösen Lobby und der tief empfundenen Liebe der Amerikaner zu ihren Flinten.

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Diesmal könnte die mächtige Waffenlobby NRA wirklich den Kürzeren ziehen und ein strengeres Waffengesetz durchgesetzt werden, meinen Optimisten in den USA.

Bisher schien es hoffnungslos. Die Amokläufe häuften sich in den vergangenen Jahren. Nach jeder Bluttat war die Erschütterung groß, die Diskussion über „gun control“ setzte ein. Und die ging regelmäßig ins Leere.

Nichts half: Nicht, dass die Mehrheit der Amerikaner seit Jahren für eine gewisse Stärkung der Kontrolle von Waffenkauf und -besitz ist; nicht die unzähligen Studien, die beweisen, dass ein Gewehr im Haus nicht sicherer macht und mehr Waffen nicht weniger, sondern mehr Tote bedeuten. Es blieb dabei: Der legale Zugang auch zu den gefährlichsten Schnellfeuergewehren blieb so frei wie in keinem anderen Land der Welt. Und die NRA hielt sich für unbesiegbar.

Warum soll das jetzt so anders sein? Was lässt hoffen? Es sind die überlebenden Teenager des Schulmassakers in Parkland/Florida. Sie trauern nicht bloß um ihre getöteten Mitschüler wie andere Leidensgenossen vor ihnen. Ihr Trauma verarbeiten sie mutig in einer Bewegung gegen die NRA, gegen die von der Lobby bezahlten Politiker und für eine Reform der Waffengesetze. Der Widerhall ist groß. Promis unterstützen die immer stärker werdende Jugendbewegung. Emma Gonzalez, eine der Anführerinnen, hat inzwischen mehr Twitter-Follower als die NRA. Und der „March for Our Lives“, der für den 24. März in Washington, D.C., geplant ist, dürfte riesig werden. Geraten da die Politiker nicht in Zugzwang?

Vor allzu großem Optimismus sei gewarnt. Während die sogenannten Millennials (die Jungen bis 29) in allen übrigen Gesellschaftsbereichen um vieles progressiver eingestellt sind als die übrigen US-Bürger, denken sie in der Frage nach dem privaten Waffenbesitz nicht anders als ihre älteren Landsleute. Auf die Jungen als natürliche und verlässliche Avantgarde im Kampf für schärfere Waffengesetze kann also nicht gesetzt werden.

Auch sonst stellt die Waffenfrage einen Spezialfall dar. Die amerikanische Gesellschaft insgesamt ist in den vergangenen 20 bis 30 Jahren dramatisch liberaler (wenn man will: linker) geworden – was Frauen, Rassenbeziehungen, Homosexualität, Marihuana, Todesstrafe, Religion und vieles mehr betrifft. Der Anteil jener aber, die das Recht, Waffen zu tragen, für wichtiger halten als gun control, ist in diesem Zeitraum sogar angestiegen.

Was steckt also hinter dieser so seltsamen, offenbar unverrückbaren und für uns Europäer so unverständlichen Liebe des Amerikaners zu seiner Flinte? Um dieses Phänomen zu verstehen, gilt es eine Zeitreise anzutreten. Das tat etwa der in Kalifornien lehrende holländische Kriminologe Pieter Spierenburg in einem viel beachteten Essay aus dem Jahr 2006 mit dem provokanten Titel: „Democracy came too early“.

Die Amour fou des Amerikaners zu seinem Gewehr hat profunde psycho-historische Wurzeln.

Er stützt sich dabei auf die Zivilisationstheorie des deutsch-jüdischen Soziologie-Klassikers Norbert Elias, wonach in Europa – grob zusammengefasst – mit der Bildung des Absolutismus im 17. und 18. Jahrhundert die Menschen sukzessive entwaffnet werden. Der Staat errichtet das Gewaltmonopol, gleichzeitig wandelt sich die Psyche des neuzeitlichen Menschen dementsprechend: Er gewinnt zunehmend Kontrolle über seine aggressiven Tendenzen und Affekte. Das bezeichnet Elias als „Zivilisationsprozess“. Erst nachdem der Staat sich zentralisiert und das Monopol über den Gebrauch der Waffen errungen hat, beginnt der lange Kampf um Demokratie. So weit Elias.

In Amerika lief die Geschichte anders ab. Es gab bei der Gründung der USA keinen absolutistischen Staat. Ja, die Vereinigten Staaten wurden gerade von Menschen ins Leben gerufen, die vielfach vor absolutistischen Herrschern geflohen waren. Die amerikanische Unabhängigkeit des späten 18. Jahrhunderts wurde militärisch nicht von einem stehenden Heer errungen. Ein solches existierte nicht. Siegreich gegen die Briten waren private Milizen.

„In Nordamerika gab es keine Phase der Zentralisierung, bevor die Demokratisierung einsetzte“, schreibt Spierenburg in „Die Demokratie kam zu früh“. Die Bevölkerung hätte im Unterschied zu jener in Europa „keine Zeit gehabt, sich an ihre Entwaffnung zu gewöhnen“. So bildete sich das Gefühl heraus, dass ein Gewaltmonopol des Staates von Übel sei. Und diese Haltung zeige sich bis heute lebendig, wenn etwa auf das „Recht auf Selbstverteidigung“ gepocht wird – ein Recht, das direkt aus der Gründungsgeschichte des Staates hergeleitet wird.

Verstärkt wurde dieses Narrativ noch in der Pionierepoche der Eroberung des amerikanischen Westens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die so nachdrücklich im Western-Film ihren populären Niederschlag fand.

In dieser Zeit wurde die Schusswaffe geradezu zum amerikanischen Fetisch. Die Modernisierung der Waffentechnik – Stichwort Colt, Winchester – machte die Flinten und Pistolen auch für alle erschwinglich. Amerika erlebte damals so etwas wie eine Demokratisierung des Waffengebrauchs. Das bleibt im kollektiven Gedächtnis haften.

Man sieht: Die Amour fou des Amerikaners zu seinem Gewehr hat profunde psycho-historische Wurzeln. Sie wird so bald ihr Ende nicht finden. Denn dazu wäre ein grundlegender Mentalitätswechsel nötig. So etwas braucht seine Zeit. Aber sollten sich die prachtvollen Kids aus der High School in Parkland als Künder solch eines Mentalitätswandels erweisen, wäre schon viel gewonnen.

Georg Hoffmann-Ostenhof