Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Warum wir immer friedlicher werden

Warum wir immer friedlicher werden

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Ich hatte eine blutige Nase, der ausgeborgte Smoking war zerrissen und meine Brieftasche mit 26 Dollar weg – 1981 in New York: Am Weg von einem abendlichen Empfang zurück zum Hotel hatten mich drei Jugendliche – fast noch Kinder – überfallen und ausgeraubt. Man bedauerte mich. Erstaunt war jedoch niemand. Der Big Apple galt damals als eine der gefährlichsten Großstädte der Welt.

Anfang der 1990er-Jahre wurde Rudolph Giuliani zum Bürgermeister gewählt. Seine Devise: Null-Toleranz – die Polizeistrategie der konsequenten Verfolgung jeglichen Rechtsverstoßes. Die Kriminalität ging drastisch zurück. Die Gewaltwelle, die New York zu begraben drohte, ebbte ab. Giuliani, der gestrenge Republikaner, wurde als Held gefeiert. Heute zählt New York zu den weltweit sichersten Metropolen.

Der Ruhm Giulianis ist freilich leicht verblasst. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass in anderen amerikanischen Städten ganz genau so wie in NY immer weniger geprügelt, geraubt, totgeschlagen und gemordet wird – unabhängig davon, ob nun strenge Null-Toleranz oder andere Methoden der Verbrechensbekämpfung praktiziert werden.

Und dann zeigte sich: Die Kriminalitätsraten befinden sich spätestens seit zwei Jahrzehnten in allen westlichen Gesellschaften im freien Fall. Vor allem die Zahl der Gewaltdelikte ist überall dramatisch gesunken – trotz des vielfach beklagten Zerfalls sozialer Bindungen und trotz der immer wieder angeprangerten Brutalität von Videos, TV und Computerspielen. Auch die Weltwirtschaftskrise, die Millionen in Elend, Frust und Hoffnungslosigkeit stürzte, konnte diesen erfreulichen Trend überraschenderweise nicht stoppen.

Was dahintersteckt, darüber wird seit Jahr und Tag gerätselt. Auch in diesem Sommer haben gleich mehrere Medien – allen voran die britischen Blätter „Economist“ und „Financial Times“ – die Frage nach den Ursachen für den allgemeinen Rückgang von Verbrechen im Allgemeinen und Gewaltkriminalität im Besonderen gestellt. Es werden gleich mehrere Erklärungen angeboten.

Zunächst eine demografische: Die westlichen Gesellschaften altern. Die Jungen werden immer weniger. Sie repräsentieren aber jene Altersgruppe, die am ehesten dazu tendiert, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Da ist sicherlich etwas dran. Bloß: Die Zahl der 18- bis 25-jährigen New Yorker ist in den vergangenen Jahren gewachsen, das Sinken des Kriminalitätsniveaus setzt sich aber weiter fort.

Die amerikanischen Konservativen haben eine ebenso einfache wie bestechende These: Durch die strengen Strafen seien immer mehr Kriminelle von der Straße geholt worden. Sie werden weggesperrt und können so keine weiteren Untaten begehen. Diese Argumentation hält aber der Überprüfung nicht wirklich stand: Auch in Ländern, in denen sich im Unterschied zu den USA die Gefängnisse nicht füllen, sondern wo, im Gegenteil, immer weniger Menschen einsitzen, ist die Verbrechensrate signifikant rückläufig.

Für Furore sorgte Steven Levitt, ein Ökonom aus Chicago, mit einer originellen Erklärung: Die Legalisierung der Abtreibung Anfang der 1970er-Jahre habe die Zahl der ungewollt geborenen und in depravierten Verhältnissen aufwachsenden Personen verringert und damit auch das kriminogene Milieu stark verkleinert.

Unter den vielen Erklärungen scheint aber jene von Christian Pfeiffer, dem Direktor des Niedersächsischen Kriminologischen Forschungsinstituts, besonders aussagekräftig zu sein. Seine Untersuchung von 45.000 Jugendlichen ergibt, dass jene, die als Kinder von ihren Eltern geschlagen wurden, fünf Mal so häufig delinquent werden wie die anderen. Verprügelte Kinder werden kriminelle Erwachsene, so lautet Pfeiffers Hypothese.

Noch in den 1950er-Jahren war körperliche Züchtigung eine allgemein akzeptierte Erziehungsmethode – in der Schule und in der Familie. Mit dem liberalen Schub, den die westliche Welt in den 1960er-Jahren erlebte, wurde die Gewalt gegenüber Kindern jäh verpönt und tabuisiert – in der Folge in vielen Ländern auch generell strafbar. Die Zeit, als man mit Beifall rechnen konnte, wenn man der „g’sund’n Watsch’n“ das Wort redete, ist längst vorbei.

Es sieht ganz so aus, als ob die sogenannten Achtundsechziger zur ersten Elterngeneration wurden, die bei der Aufzucht ihrer Sprösslinge massiv auf den Einsatz von physischer Gewalt verzichtete. Ihre von Schlägen weitgehend verschont gebliebenen Kinder neigten dann als Teenager und Twens folgerichtig weniger stark zur Kriminalität als die Jungen früherer Zeiten. Deshalb begannen die Verbrechensraten in den 1990er-Jahren so abrupt zu sinken.

Der berühmte Harvard-Psychologe Steve Pinker zeigt in einer groß angelegten Studie mit dem Titel: „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“, wie sich die Welt seit Jahrtausenden langsam, mit gewaltigen Rückschlägen und Pausen, aber dennoch kontinuierlich zivilisiert und immer friedlicher wird. Hat Pinker Recht? Die Entwicklung der vergangenen 20, 30 Jahre scheint ihn jedenfalls zu bestätigen.

Dass aber von den 1960er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die 1990er-Jahre eine Kriminalitätswelle durch die westlichen Metropolen – allen voran New York – schwappte, sieht er als „Abweichung des langfristig-historischen Trends“. Nun schreite jedoch Gott sei Dank der Prozess der Zivilisation wieder munter weiter fort.

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