Georg Hoffmann-Ostenhof: Zum Genieren!

Warum die Austro-Türken Erdoğan wählten und die Türkei trotz allem EU-Beitrittsland bleiben soll.

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„Sie leben in einer freien Demokratie, aber zu Hause wollen sie den autoritären Despoten. Drei Viertel der in Wien lebenden Türken wählten den türkischen Präsidenten Erdoğan.“ So schrieb der „Falter“ jüngst in der Rubrik „Worüber Wien staunt“. Und weiter: „Früher hätte man gesagt: Geht doch rüber!“ Das steht, wie gesagt, im Blatt der progressiven Intelligenz des Landes und nicht in der „Krone“. Auch wenn dabei Ironie im Spiel ist: Der „Falter“ stellt implizit die Berechtigung der austro-türkischen Erdoğan-Fans infrage, hier zu leben. Ein starkes Stück.

Natürlich darf man staunen. Aber man sollte auch nach den Gründen fragen, warum es unter den Türken in Österreich so viele Fans des Recep Tayyip Erdoğan gibt. Sind sie wirklich allesamt antidemokratische Islamisten? Sehnen sie sich nach einer muslimischen Diktatur? Wohl kaum.

Erdoğan war nicht immer der wüste Autokrat, der er heute ist. Erinnern wir uns: In seinen Anfangsjahren wurde er als demokratischer Reformer gefeiert, der zügig sein Land an die EU heranführte und dessen Ökonomie aufblühen ließ.

Vor allem aber: Für die breiten (meist ländlich geprägten) Unterschichten brachte Erdoğan wirtschaftlichen Aufstieg und gesellschaftliche Anerkennung. Bis zu seinem Machtantritt waren sie von den säkularen Eliten in Istanbul und Ankara ob ihrer Rückständigkeit und Religiosität verachtet worden. Dass ihre Töchter nun dank Erdoğan auch mit Kopftuch an den Unis studieren durften, wurde für sie ein Symbol dafür, angekommen zu sein.

Die Türken in Österreich rekrutieren sich in stärkerem Maße als anderswo aus genau diesen Schichten. Nun sind sie Erdoğan dankbar für das, was er einst für sie getan hat. Das ist wohl der Hauptgrund, warum sie ihn wählen.

Will Europa die Türken tatsächlich mit ihrem „Sultan“ allein lassen?

Dazu kommt, dass die Türken bei uns nicht gerade willkommen sind. Selbst als Erdoğan noch weltweit als proeuropäischer Modernisierer bejubelt wurde, war Österreich das Land, das am vehementesten gegen den – seit Langem versprochenen – EU-Beitritt agitierte. Und wenn die eifrigen österreichischen Kämpfer gegen den politischen Islam unter jedem Kopftuch Gefahr für die Heimat wittern, dann kann bei jungen Türken, deren brave Großmütter nach althergebrachter Art nicht unbedeckten Haares außer Haus gehen, das Gefühl aufkommen, dass die Österreicher die Türken einfach nicht hier haben wollen. Womit sie nicht unrecht haben.

Sympathisch sind die mit nationalistischen Slogans und türkischen Fahnen herumrennenden Erdoğan-Adoranten wirklich nicht. Das massive Votum für den Präsidenten ist nicht gutzuheißen. Verständlicher aber allemal. Verständlicher jedenfalls als etwa die Tatsache, dass in den USA, dem reichsten Land der Welt, ein Barbar wie Donald Trump im Weißen Haus sitzt; dass eine Mehrheit der Briten wider jede Vernunft für den Brexit gestimmt hat; oder dass sich das wohlhabende Österreich ohne Not eine destruktive, rechtspopulistische und nationalistische Regierung leistet.

Natürlich ist der Wahlsieg Erdoğans eine Katastrophe. In keinem anderen Land sitzen heute mehr Journalisten in Haft als in der Türkei. Hunderttausende Richter, Beamte, Lehrer, Polizisten und Soldaten wurden nach dem Putschversuch im Juli 2016 entlassen, des Terrorismus angeklagt und/oder eingesperrt. Es herrscht nach wie vor Ausnahmezustand. Der „Sultan“ wird in den kommenden Jahren versuchen, jedes noch vorhandene Element von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung zu beseitigen.

Aber einfach wird er es nicht haben. Die vergangenen 15 Jahre seiner Herrschaft waren fette Jahre. Doch damit ist es vorbei – jetzt kommen die mageren Jahre, in denen es dem Autokraten schwerfallen wird, ein Mindestmaß an Loyalität zu erhalten.

Zum anderen hat Erdoğan keine parlamentarische Mehrheit mehr. Ohne Allianz mit den rechtsradikalen Nationalisten und Kurdenfeinden von der MHP wären er und seine AKP schon abgewählt. Erdoğans islamischer Konservativismus ist nicht mehr im Aufstieg begriffen. Im Gegenteil.

Und obwohl sie es bei der Wahl nicht geschafft hat: Die Opposition erweist sich trotz massivster Behinderung stärker und vitaler denn je. Vor allem die HDP sei hier erwähnt. Diese moderne, linke, nach Europa orientierte Partei – ein Novum für die Türkei – hat kurdische Wurzeln, gewinnt aber immer mehr Anhänger in der jungen urbanen Mittelklasse. Die HDP ist zur drittstärksten Partei geworden – obwohl sich ihre Führungscrew fast zur Gänze in Haft befindet.

Wieder blitzte vergangene Woche Österreich in Brüssel mit der Forderung nach einem offiziellen Aus für die ohnehin de facto ausgesetzten Beitrittsverhandlungen mit Ankara ab. Dafür gibt es gute Gründe. Und nicht nur realpolitische – Stichwort Flüchtlingsdeal. Will Europa die Türken wirklich mit ihrem Erdoğan allein lassen? Die Regimegegner wären die Ersten, die unter dem endgültigen Versperren des Weges nach Europa leiden würden.

Aber um die wunderbare, durchwegs proeuropäische Opposition in der Türkei hat sich in Österreich kaum je wer gekümmert. Stattdessen bedient die Politik (und zwar nicht nur die Rechte) mit scharfer Rhetorik antitürkische und islamfeindliche Ressentiments. Zum Genieren.

Georg Hoffmann-Ostenhof