Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Gute Nacht mit Big Data

Gute Nacht mit Big Data

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Am vergangenen Dienstag fällte der deutsche Bundesgerichtshof ein bemerkenswertes Urteil. Das Höchstgericht verpflichtet Google, automatische Suchvorschläge zu entfernen, die Menschen in schlechtem Licht erscheinen lassen. So kann in Zukunft jedermann verhindern, dass bei Eingabe seines Namens – noch vor dem eigentlichen Suchvorgang – eine Liste von Worten erscheint, die von behaupteten Straftaten bis zur religiösen Orientierung, von sexuellen Vorlieben bis zu Krankheiten reichen kann. Erwirkt hatte das Urteil ein Mann, bei dem „Scientology“ als mögliche Suchanfrage erscheint. Bekanntestes Beispiel ist Bettina Wulff, (noch) Ehefrau des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten, bei der bis heute „Rotlicht“ als erster Vorschlag auftaucht.

Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist freilich nicht, dass sie entsprechend ausfiel, sondern dass sie mühsam erkämpft werden musste, dass also überhaupt ein Zweifel an ihrer Berechtigung bestand. Google hatte regelmäßig argumentiert – unter anderem auch der Sprecher von Google Österreich bei einer Podiumsdiskussion gegenüber dem Autor dieser Zeilen – , das Unternehmen sei völlig unbeteiligt an dem Vorgang, vielmehr sei doch ein Algorithmus im Suchsystem für die Vorschläge verantwortlich. Das ist ungefähr so hanebüchen, als würde Volkswagen erklären, für einen Unfall durch Bremsversagen sei nicht der Hersteller haftbar, sondern eine physikalische Größe, nämlich die Massenträgheit.

Die Haltung von Google ist eine Chuzpe, paradigmatisch für den einerseits naiven, andererseits strategisch durchgestylten Umgang mit Big Data. Aber ist Google, sind Amazon oder eBay gefährlich?

Big Data, das sind jene gigantischen Datenmengen über jede Regung menschlichen und unmenschlichen Lebens, die, intelligent verknüpft, zu einer erstaunlichen Veränderung der Welt geführt haben. Ihre Anwendung reicht von maßgeschneiderten Kaufempfehlungen und personalisierter Werbung im Netz, über die mindestens so treffsicher gesteuerte Anbahnung von Geschlechtsverkehr mit Verlängerungsoption bis zum automatisierten Straßenverkehr samt individualisiertem Navigationssystem. Big Data ermöglichte die Ausforschung der Täter beim Boston Marathon und verhinderte so weitere Attentate, ist aber auch notwendig für einen 3D-Drucker, für Baupläne und für deren globale Verbreitung, eine Kombination mit der bald jeder Mensch weltweit eine Pistole basteln kann.

Möglich wurde all dies durch exponentiell wachsende Speichermedien und ähnlich stark beschleunigende Interaktion des gespeicherten Wissens. Nochmals: Ist das gut oder schlecht für den Fortgang der Menschheit? Die üblichen Argumente gegen Big Data sind jedenfalls eine Themenverfehlung. Die Bündelung vergangener Kaufentscheidungen zu neuen Kaufempfehlungen bei Amazon führt nicht zur bedrohlichen Einschau in ein schützenswertes Privatleben, ist vielmehr eine sinnvolle Perfektionierung der Marktwirtschaft. eBay wiederum schafft einen bis dato unerreicht präzisen Abgleich von Angebot und Nachfrage, und das weltweit. Die zugehörigen Bezahlsysteme sind viel sicherer, als Barzahlung und Bargeldtransport es jemals waren (und schlechter für das organisierte Verbrechen). Auch die allgegenwärtige Überwachung durch Kameras bringt eher einen Saliera-Dieb zur Strecke als einen Schulschwänzer oder Ehebrecher. Die lückenlose Erfassung von privatem Datenaustauch und Telefonaten schließlich hat zwar Gespräche zwischen einem ehemaligen Finanzminister und seinen Freunden öffentlich gemacht; auf welchen Websites die Grassers oder die Meischbergers surfen, welche Filme sie bestellen und ob sie das Gesamtwerk von James Last per iTunes kaufen, hat freilich niemand erfahren.

Die Bedrohung durch Big Data liegt also nicht im Normalbetrieb des Lebens. Die Gefahren entstehen erst, wenn die politischen Systeme rutschen. Allein die Vorstellung, dass ein freiheitlicher Minister im Innenministerium Zugang zum Datenverkehr jedes Staatsbürgers und jedes Unternehmens hätte, muss Angst machen, und das berechtigt. Auch ein Stronach-Vertrauter im Justiz- oder Verteidigungsministerium, ein einschlägiger Landeshauptmann, Kanzler oder Vizekanzler, ja auch ein Peter Pilz in einer solchen Position würden Big Data zu einer potenziellen Datenbombe machen.

Zu einer Atombombe würden die im demokratischen Umfeld recht angenehmen Terabytes schließlich, wenn die Demokratie kippte, wenn Checks and Balances außer Kraft gesetzt wären. Dann richteten sich die Kameras, Mikrofone, Cookies bald gegen alle und jeden.

Ist eine demokratische Regierung mit undemokratischen Politikern in Österreich denkbar? Schon morgen. Kann das System insgesamt in eine chaotische oder diktatorische Phase treten? Übermorgen.

Dann aber Gute Nacht für alle mit Big Data gegen alle!

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