Leitartikel: Herbert Lackner

Herbert Lackner Danke, Frau Minister

Danke, Frau Minister

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Zu den bemerkenswertesten Funden auf lange nicht aufgeräumten Dachböden zählen Opas Zeugnisse. Schon amüsant, dass er es im „Rechnen“ bloß zu einem „Wenig zufrieden stellend“ brachte, damals im Jahr 1913. Noch witziger, dass es in der „Erdkunde“ gar ein „Ungenügend“ setzte, wo er später doch so gerne gereist ist.

Das Fach heißt heute nicht mehr „Rechnen“, sondern „Mathematik“, statt „Erdkunde“ sagt man „Geografie“, „wenig zufrieden stellend“ bedeutet „genügend“, und bei „ungenügend“ hat man einen Fleck – aber sonst ist alles gleich geblieben in Österreichs Schulen.

Seit jenem 13er-Jahr, in dem der Opa so schlampert gelernt hatte, sind zwei Weltkriege über den Globus gerast, das Passagierflugzeug wurde erfunden, die Haushalte bekamen elektrisches Licht, Radios, TV-Geräte, Mikrowelle, PC, Internet, iPod, iBook und iPad, die Menschheit erforschte Weltall und Meerestiefen, Urknall und Antimaterie und rottete Pest, Pocken und Polio weitgehend aus.

Nur die Schule ist gleich geblieben. Man sitzt sogar noch in denselben Gebäuden wie der Opa. In Österreichs Städten stammen die meisten Schulen aus dem Jahr 1898, als man zum 50-jährigen Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph eine Schulbau-Offensive startete. Vier Jahre Volksschule, dann Hauptschule oder Gymnasium samt ­Matura. So war es damals, so ist es heute. Sogar die Debatte über Schulpolitik ist dieselbe. Die Sozialdemokraten forderten schon in ihrem Parteiprogramm von 1926 die Einführung der Gesamtschule, da war der Opa noch ein junger Mann. Seither wird darüber gestritten.

Es ist also höchst erfreulich, dass sich 84 Jahre später die neue, wohltuend unkonventionelle Wissenschaftsministerin Beatrix Karl (ÖVP) aufschwingt und als erste namhafte Bildungspolitikerin ihrer Partei versucht, den gordischen Knoten zu durchschlagen, indem sie sich für eine „einheitliche Schule für alle Zehn- bis 14-Jährigen“ ausspricht. Denn natürlich ist es unmenschlich, so wie zu Opas Zeiten Kinder mit neuneinhalb Jahren für den Rest ihres Lebens vorzusortieren. Logischerweise gehen der Gesellschaft damit viele Talente verloren, die unter ihrem Wert geschlagen werden, und ohne Zweifel wird damit viel Lebensglück verunmöglicht.

Österreich könnte sie ja auch gut gebrauchen, diese vielleicht hoch begabten Techniker, die doch nur in die Elektrikerlehre gehen durften, die Leseratte von der Supermarktkassa, die unter anderen Umständen eine gute Bibliothekarin geworden wäre.

Aber so verwegen Frau Karls Parteifreunde die Idee der Ministerin auch befinden – in Wahrheit geht sie viel zu wenig weit. Denn die Einführung der Gesamtschule ohne vor­herige Gesamt-Umkrempelung des österreichischen Schulwesens ist sinnlos, ja sogar kontraproduktiv.

Gesamtschule beabsichtigt ja, deutlich mehr jungen Menschen als bisher zu höherer Bildung zu verhelfen: jenen nämlich, deren Fähigkeiten nicht erkannt wurden und daher verloren gingen. Das braucht viel neuen Raum, also neue Schulen, sowie mehr und besser ausgebildetes Personal. Denn dann sitzen ja alle Kinder acht Jahre lang zusammen: jene, die auch jetzt das Gymnasium mit vorzüglichem Erfolg absolvieren; und die etwa acht Prozent, die im gegenwärtigen System nicht einmal einen Hauptschulabschluss schaffen.

Die Schwachen sollen von den Starken profitieren, diese aber nicht schwächen. Dafür muss es Leistungs- und Förderkurse geben, in denen noch viel genauer auf die Fähigkeiten der Schüler eingegangen wird. Die Gruppen müssen also möglichst klein sein, sonst haben die Nachzügler keine Aufholchance, und den Tüchtigen ist langweilig. Und am Ende des Schuljahrs sollte der Leistungsstandard einigermaßen ausgeglichen sein, sonst rächt sich das im nächsten Jahr.

Wozu noch kommt: Die Gesamtschule ist durch die Zuwandererwellen noch ein weit komplexeres Projekt geworden, als sie es ohnehin immer war. Wenn, wie in manchen Gebieten größerer Städte, die Hälfte der Kinder bei Schul­eintritt nicht Deutsch kann, kann Gesamtschule nicht funktionieren. Ihre Einführung muss also mit einer streng kontrollierten, mindestens zweijährigen Kindergartenpflicht für nicht deutschsprachige Zuwandererkinder einhergehen.

Gibt es so viele Kindergärten? Gibt es genügend Schulen? Wer bildet die Lehrer entsprechend aus? Wer motiviert sie, wenn die neue Schule weit mehr als die heiß diskutierten zwei Stunden Mehrarbeit in der Woche bedeutet? Wer schafft ihnen Arbeitsplätze, die über den halben Quadratmeter hinausgehen, den sie heute im Durchschnitt in den Lehrerzimmern haben? Und wer bezahlt das alles, wo doch rundum gespart werden muss?

Bitte nicht missverstehen: Das ist kein Plädoyer gegen die Gesamtschule. Es ist eines gegen jene, die schon den schüchternen Gedanken der Ministerin für radikal halten.

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