Rainer Nikowitz

Hiergeblieben!

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Der Tag begann wie jeder andere in den vergangenen vier Monaten.
Der Landeshauptmann schreckte aus dem Schlaf, noch bevor der Kuckuck aus dem originalgetreuen Modell eines Lagerhaus-Silos auf seinem Nachttisch schnellen und rufen konnte: „Super! Erwin! Super! Erwin
Er hatte wieder wild geträumt. Diesmal hatte er bei einem Weinfest in Rossatz eine flammende Rede gehalten, wurde aber hernach in einem Weinkeller bei einem Fass Gelbem Muskateller von einer Abordnung von 72 Wachauer Goldhaubenfrauen eingekesselt. Sie drohten damit, ins Kloster zu gehen, sollte Erwin den Lockrufen aus der großen Stadt nicht widerstehen und sie alleine und schutzlos zurücklassen.

Eine kündigte sogar an, fortan in die Burka zu wechseln und eigenhändig mit dem Bau eines Minaretts zu beginnen. Erwin wälzte sich ächzend aus dem Bett und machte sich schlurfend auf den Weg ins Bad. Er stieg umsichtig über den Vizeobmann des Tullnerfelder Rübenbauernbunds, der sich vor mittlerweile zwölf Tagen in stillem Protest an Erwins Schrankwand angekettet hatte und trotz täglichen guten Zuredens nicht bereit war, zwischendurch wenigstens einmal aufs Klo zu gehen, schritt zum Spiegel und schaute hinein. Was er da sah, gefiel ihm nicht. Dunkle Ringe unter den Augen, die Wangen fahl und eingefallen. So konnte das nicht weitergehen. Irgendwie musste er endlich wieder zur Ruhe kommen.

Er war gerade dabei, seinen nachtschweißdurchtränkten Haarkranz auszuwringen, als sein Handy läutete. Erwin wusste gleich, wer dran war. Der örtliche Polizeikommandant wollte ihm nur jenen Schleichweg durchgeben, den er heute ins Büro nehmen konnte. Schließlich lagen heute, wie jeden Tag in den vergangenen vier Monaten, wieder tausende verzweifelte Niederösterreicher auf allen Hauptstraßen, um Erwin daran zu hindern, sein Haus zu verlassen. Denn wenn er sein Haus verließ, konnte man nie wissen, ob er nicht auch gleich das Land verlassen würde. Und vor allem: ob er jemals wiederkommen würde.

Von draußen hörte er die glockenhellen Stimmen des Kinderchors Kematen. Nachdem das öffentliche Leben völlig zum Erliegen gekommen war, gingen die kleinen Racker natürlich auch nicht in die Schule. Und sie sangen jeden Morgen vor seinem Wohnzimmerfenster sein Lied, von dem 96 Prozent aller Niederösterreicher – die anderen waren in der Woche wohl auf Auslandsurlaub gewesen und brauchten jetzt gar nicht mehr zurückkommen – in einem eilends durchgeführten Volksbegehren gefordert hatten, man möge es zur neuen Landeshymne erheben:

„Danke, für diesen guten Morgen,
Danke, für jeden neuen Tag,
Danke, dass ich all’ meine Sorgen
Auf dich werfen mag.
Danke, Erwin, ich will dir danken,
Dass ich danken kann.“

Erwin wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Natürlich war er es gewohnt, haltlos geliebt zu werden. Ehrerbietungen entgegenzunehmen war für ihn so außergewöhnlich wie Zehennägel schneiden. Tausende Buswartehäuschen waren nach ihm benannt worden, hunderte Sackgassen, sechs neue Rosenzüchtungen und eine aufgelassene Nebenbahn. Außerdem hatte er im Lauf der Jahre 8762 Heiratsanträge bekommen – darunter immerhin 124 von Männern. Das Land wusste, was es an Erwin Pröll hatte.

Und nicht, dass Erwin das nicht gewusst hätte. Aber dass sich jetzt schon wieder eine Mostviertler Bergführerin durch seinen Rauchfang abseilte, nur um ihm nahe zu sein und ihn anzuflehen, er möge doch bitte weiterhin den Schneeberg zur zweitgrößten Erhebung Niederösterreichs degradieren, war selbst für ihn eine neue Dimension.

Wenn er all das geahnt hätte! Sofort wäre er dem von wem auch immer, aber sicher nicht ihm selbst ausgelösten Tsunami, der durch Österreich rollte und ihn in die von den Mächten der Finsternis besetzte Hofburg schwemmen wollte, mannhaft entgegengetreten! Wäre persönlich in die Muthgasse gefahren, um dort kantig zu erklären, dass man damit gefälligst aufhören sollte – und zwar sofort! Nie hätte er diese tiefe Verunsicherung, diese gedankenlose Verletzung seines Landesvolks zugelassen, wenn er von dem brennenden Wunsch der überwältigenden Mehrheit der anderen Österreicher, ihn endlich bei der Eröffnung der UN-Generalversammlung zu sehen, statt bei jener des Sparvereins Miesenbach, rechtzeitig Wind bekommen hätte.

Aber es war noch nicht zu spät. Und manchmal musste ein Erwin eben tun, was ein Erwin ohnehin immer schon getan hatte: sich unter völligem Außerachtlassen etwaiger persönlicher Interessen gänzlich dem Willen des Souveräns unterordnen, sich für das Gemeinwohl aufopfern, das Haupt beugen und – dienen.

Erwin sprang auf, lief zum Fenster, riss es auf und warf der leise vor sich hin schluchzenden Menge jene Worte entgegen, auf deren Erklingen schon fast niemand mehr zu hoffen gewagt hatte: „Ich bleibe!“

Und das Land hallte wider von der frohen Kunde. Die Wälder rauschten euphorisch, die Wintergerste begann schlagartig zu keimen, der Grundwasserspiegel im Marchfeld stieg um einen halben Meter. Alles war wieder gut.

Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz

Kolumnist im Österreich-Ressort