Martin Staudinger: In der Rettungsfalle

Wer Hilfe für Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ablehnt, nimmt Tote in Kauf. Wer hilft, beschwört erst recht welche herauf. Politik und NGOs bleiben in diesem Dilemma gefangen.

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Allein die Frage dürfte viele Gegner von Sebastian Kurz in Rage bringen: Hatte der Außenminister womöglich doch recht, als er Ende März gegen den „NGO-Wahnsinn“ im Mittelmeer loslegte? Der höchst undiplomatische Ausbruch des Chefdiplomaten richtete sich gegen jene freiwilligen Seenotretter, die vor der libyschen Küste heuer bereits mehr als 37.000 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt haben. Die Bezichtigung, die Helfer würden sich zu Komplizen von Schleppern machen und dadurch noch mehr Tote heraufbeschwören, brachte Kurz nicht nur bei Gegnern der derzeitigen Flüchtlingspolitik entsprechend tief in Verschiss.

Vor ein paar Tagen durfte sich der Außenminister in seiner Haltung bestätigt fühlen. Da berichtet ein italienischer Staatsanwalt von direkten Kontakten zwischen Schleppern, Flüchtlingsbooten und NGOs – etwa durch Anrufe oder Lichtzeichen. „Bin vor einigen Wochen für meine Aussage noch kritisiert bzw. bewusst falsch verstanden worden“, tweetete Kurz unter Hinweis darauf befriedigt.

Tatsächlich unterscheiden sich die derzeitigen Hilfsaktionen im Mittelmeer einigermaßen vom althergebrachten Bild der Seenotrettung, die normalerweise folgendermaßen vor sich geht: Passagiere und Besatzungsmitglieder eines überraschend havarierten Schiffes werden geborgen, zu einem Hafen und von dort in ihre Heimat oder an ihren planmäßigen Bestimmungsort gebracht.

Vor der libyschen Küste hingegen warten Retter auf Flüchtlingsboote, die noch gar nicht ausgelaufen sind, und kündigen ihre Anwesenheit in manchen Fällen sogar vorab an. Und die Passagiere, denen sie zu Hilfe kommen wollen, werden von Schleppern vorsätzlich in die Havarie geschickt, um ihre Aufnahme in Europa zu erzwingen.

Egal wie und warum jemand in Lebensgefahr geraten ist: Es kann nicht unmoralisch sein, alles für seine Rettung zu tun.

Sind die Hilfsaktionen der NGO-Leute, die dabei zuweilen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, deshalb verurteilungswürdig? Keineswegs. Egal wie und warum jemand in Lebensgefahr geraten ist: Es kann nicht unmoralisch sein, alles für seine Rettung zu tun.

Die aktuelle Bergungspraxis, die vor allem kleine, private NGOs pflegen, birgt jedoch tatsächlich die Gefahr, weitere Notfälle heraufzubeschwören. Schlepper reagieren hochsensibel auf geänderte Geschäftsbedingungen und versuchen, mit geringstmöglichem Aufwand größtmöglichen Gewinn zu machen. Das bedeutet: Sie maximieren das Risiko gerade so weit, dass Todesfälle zwar einkalkuliert sind, die Mehrzahl der Passagiere aber damit rechnen kann, durchzukommen. Andernfalls würde das Geschäft der Menschenschmuggler über kurz oder lang zusammenbrechen.

Es muss NGOs bewusst sein, dass ihr Verhalten Einfluss auf die Zahl der Todesfälle haben kann. Ihnen die Schuld am Sterben im Mittelmeer zuzuschanzen, wie es Sebastian Kurz getan hat, ist trotzdem hanebüchen.

Sprich: Je höher die Chance auf zeitgerechte Rettung, desto schlechter, überfüllter und zahlreicher die Boote.

Diese Tendenz gibt es – allerdings nicht erst, seit private NGOs im Mittelmeer tätig sind. Sie begann bereits 2013, als erst Italien und dann die EU angesichts einer steigenden Zahl von Flüchtlingen und Notfällen hochoffizielle Seerettungsmissionen starteten. Und sie verstärkte sich, je mehr Helfer beteiligt waren und je näher sich ihre Aktivitäten Richtung Küste verlagerten.

Es muss NGOs also bewusst sein, dass ihr Verhalten Einfluss auf die Zahl der Todesfälle haben kann. Ihnen die Schuld am Sterben im Mittelmeer zuzuschanzen, wie es Sebastian Kurz getan hat, ist trotzdem hanebüchen: die resultiert, wenn überhaupt, aus einem eklatanten Versagen der internationalen Politik, und nicht aus dem Hilfsbedürfnis einiger weniger Privatleute.

Wer Rettungsaktionen unterbindet, muss sich darüber im Klaren sein, dass er damit Todesfälle provoziert. Wer Rettungsaktionen durchführt, ebenfalls. Das ist das Dilemma, in dem derzeit alle gefangen sind.

Zumal der Ansatz des Außenministers ebenfalls nicht unproblematisch ist. Immer wieder fordert er, man müsse „sicherstellen, dass sich die Leute nicht auf den lebensgefährlichen Weg machen“. Wie das praktisch und vor allem kurzfristig geschehen soll, blieb Kurz aber schuldig. Läuft es letztlich darauf hinaus, Menschenleben zu opfern, bis niemand mehr die Überfahrt wagt? Die Interpretation ist – Stichwort „hässliche Bilder“ – leider nicht gänzlich abwegig.

Wer Rettungsaktionen unterbindet, muss sich darüber im Klaren sein, dass er damit Todesfälle provoziert. Wer Rettungsaktionen durchführt, ebenfalls. Das ist das Dilemma, in dem derzeit alle gefangen sind.

Zu lösen ist es vermutlich nur durch eine humanitär unstrittige Adaption des von Kurz propagierten australischen Modells, an das sich Bundeskanzler Christian Kern mit weniger provokativer Rhetorik bereits angenähert hat: menschenwürdige Auffanglager außerhalb der EU, in denen Asylberechtigungen überprüft und möglicherweise legale Einwanderungsgenehmigungen gewährt werden (was für die Gastländer selbst allerdings bedeuten könnte, durch die Camps zum Anziehungspunkt für Flüchtlinge und Migranten zu werden). Zu diesem Modell müsste logischerweise auch eine hochprofessionelle Seerettung gehören.

Ein konkretes Konzept dafür haben die Österreicher, die sich gerne als Vordenker der europäischen Asylpolitik gerieren, bislang zwar nicht präsentiert. Immerhin formulierte Kern aber Fragen, die vorab zu beantworten wären. Etwa: Ob Europa und damit auch Österreich bereit seien, Soldaten und Geld für die Camps zur Verfügung zu stellen.

Zu einem „Ja“ konnte sich vorerst freilich keiner durchringen, und das heißt wohl: Das Dilemma wird auf unabsehbare Zeit bleiben, und das Sterben weitergehen.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 18 vom 28.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.