Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Gaza-Missverständnisse II

Gaza-Missverständnisse II

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Dass ich vor zwei Wochen behauptet habe, auch jeder andere militärisch potente Staat würde sich gegen permanenten Raketenbeschuss seiner Bevölkerung mit einem vornehmlich aus der Luft geführten Militärschlag wehren und damit durchwegs eine hohe Zahl ziviler Toter riskieren, hat ein gravierendes Missverständnis provoziert: Dass ich nämlich Israels Gaza-Politik für richtig hielte.

Dagegen möchte ich mich verwahren: Ich bin nur nicht so absolut sicher, dass es die falsche Politik ist. Dafür ist mir Wien zu weit von Palästina.
Israelische Kollegen vor Ort glauben, dass die Hamas eine andere Sprache als die schmerzhaftester Vergeltung nicht versteht. Das ist keine absurde Ansicht – aber ich halte ihr entgegen, dass Jahrzehnte schmerzhafter Vergeltungsschläge sie bisher nicht zur Aufgabe bewogen haben.
Benjamin Netanjahu glaubt, dass die palästinensische Bevölkerung aufgrund der ständigen Opfer, mit denen sie die Übergriffe der Hamas bezahlt, dieser irgendwann überdrüssig würde und daher aufhörte, sie zu unterstützen.

Auch das ist keine absurde Ansicht, aber ich teile auch sie nicht: Eltern, die ihre Kinder bei einem israelischen Militärschlag verlieren, denken nicht, dass sie ihn der Uneinsichtigkeit der Hamas verdanken, sondern haben immer mehr Verständnis für deren anti-israelische Aggression.

Dass ich nicht restlos überzeugt bin, dass Israel klüger handelte, wenn es auf Militärschläge verzichtete, liegt am beschriebenen Fehlschlag eines solchen Versuches: Drei Monate hat Israel auf Vergeltung verzichtet, und der Hamas-Beschuss hat zu- statt abgenommen.

Terroristen scheinen das Fehlen einer Reaktion als Schwäche auszulegen, die sie ausnützen müssen.

Gibt es eine Reaktion, die diese Gefahr vermeidet und die Zivilbevölkerung nicht in Mitleidenschaft zieht?

Ich meine: Ja. Genau jene „gezielte Tötung“ führender Hamas-Aktivisten, die Israels westliche Kritiker Netanjahu schon gar nicht zugestehen. Auch wenn es unpopulär ist: Exakt gegen Einzelpersonen geführte Schläge sind ungleich vernünftiger und relativ rechtsstaatlicher als der aus der Luft geführte Militärschlag gegen eine ganze Region.

Mein zentraler Vorwurf bleibt freilich, dass Israel den gesamten Palästinenserstaat am Funktionieren behindert, statt ihn darin zu befördern.
Dies, obwohl ich, im Gegensatz zu Bruno Kreisky, alles eher als überzeugt war, dass es diesen Staat als „unverzichtbar für den Frieden“ geben müsse. Dabei habe ich mit Kreisky darin übereinstimmt, dass den Palästinensern Unrecht geschehen ist: Zu viele von ihnen sind nicht aus ­ihren Häusern herausgekauft, sondern vertrieben worden. Aber hunderttausende Sudetendeutsche auch: auch ihnen wurde (mit Ausnahme aktiver Anhänger Hitlers) grobes Unrecht zugefügt. Dennoch hat niemand ihnen zugebilligt, Terroranschläge zu verüben, Flugzeuge zu entführen oder gar Raketen auf Tschechien abzuschießen, um ihr Land zurückzuerhalten. Vielmehr wurden sie bekanntlich von ihren österreichischen und deutschen Brüdern aufgenommen und integriert. Die Palästinenser hingegen wurden von ihren sämtlichen arabischen Brüderländern, die jetzt verbal gar nicht genug für sie eintreten können, zurückgewiesen: keine Hilfe, keine Arbeit, keine Staatsbürgerschaft.

Statt dass der „Westen“ Syrien, Saudi Arabien oder den Libanon genötigt hätte, die palästinensischen Israel-Flüchtlinge zu integrieren, separierte man sie teuer in Lagern, wo sie mangels Alternativen nur Rachepläne schmieden konnten.

Während Bruno Kreisky oder Willy Brandt sich damit abfanden, dass die Tschechoslowakei nach allem, was Hitler ihr angetan hatte, nicht einmal zu Entschädigungen an die Sudetendeutschen gezwungen wurde (so wenig wie Polen zur Rückgabe der deutschen Ostgebiete), wollten sie sich immer weniger damit abfinden, dass hunderttausende Palästinenser ihr Zuhause an die Überlebenden des ­Holocaust verloren haben.

Statt dass man Jordaniens König Hussein, der 80 Prozent Palästinenser mit 20 Prozent Haschemiten beherrschte, genötigt hätte, auf seinem Riesengebiet einen Palästinenserstaat zuzulassen, wurde Israels Regierung genötigt, ihn in den besetzten Gebieten an seiner Flanke zu akzeptieren, obwohl deren bewohnbarer Teil von vornherein zu klein war und es zu kaum lösbaren Auseinandersetzungen um Jerusalem kommen musste.

Ich habe daher keinen solchen Geniestreich in der Gründung eines Palästinenserstaates gesehen.

Aber da man sich nun einmal auf ihn geeinigt hat, muss er dringend funktionieren. Denn nur die Bewohner eines funktionierenden Staates, in dem sie Arbeit und Sicherheit finden, geben irgendwann auf, von Rache zu träumen.

Jassir Arafat und Co. haben dieses Funktionieren durch atemberaubende Korruption und „Sicherheit“ durch fortgesetzte Duldung der Hamas verhindert.

Israel hintertreibt das Funktionieren, indem es nur ein absurd zerstückeltes Staatsgebiet zulässt, es alle paar Monate hermetisch abriegelt und darin Siedlungen errichtet, die Palästinenser nur als Ablehnung eines souveränen Staates interpretieren können.

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