In Gefahr können wir als Rettende über uns hinauswachsen
Hölderlins tröstliches Postulat ist in den vielen Krisen zu einem wiederholten Ausdruck des Verlangens nach Rettung und Heilung geworden, nach medizinischen Lösungen in der Pandemie, nach Beendigung von Krieg und Leid, nach existenzieller Absicherung in Not, nach Verhinderung unfassbar gewaltsamer Taten in unserer Mitte.
Wo aber kann in diesen dunklen Stunden das Rettende zu wachsen beginnen?
Die Hoffnung keimt in tiefer Verzweiflung oft im Mitgefühl anderer Menschen. Ich bin mit und in meinem Schmerz nicht allein. Es sind andere mit mir. Der Schmerz darf Teil unseres Miteinanderseins sein. Hoffnung kann neben dem Schmerz wachsen, auch wenn eine tiefe Wunde bleibt.
Das deutsche Wort Mitleid führt uns als Handlungsanleitung aber in die Irre. Im Lateinischen gibt es das Wort Consolatio, „Mit-Sein in der Einsamkeit“. Es geht um das Da-Sein und Aushalten. Aber es verunsichert uns tief, nicht lösen zu können und Schmerz, Not, Leid, Verzweiflung nicht wegnehmen zu können. Einfach da zu sein, ist nicht einfach.
Mitfühlen ist uns nicht in die Wiege gelegt. Als Neugeborene wollen wir alles, und das sofort. Wir sind kleine, laute Diktatoren, getrieben von primären Bedürfnissen. Mit der schrittweisen Autonomie lernen wir Rücksichtnahme auf andere. Später auch als ethische Verantwortung für ein Zusammenleben auf unserem gemeinsamen Planeten.
Dieser Zugang scheint aktuell altmodisch. Einer der lautesten Marktschreier des Egomanismus unserer Gegenwart, Elon Musk, behauptet ja: „The fundamental weakness of the western civilization is empathy.“ Immerhin ist er so der reichste Mann der Welt geworden, ein Role Model für viele.
Der früheste Beweis für Zivilisation ist nicht die Erfindung des Rades, sondern der Fund von Knochen, die auf einen geheilten Bruch hinweisen. Der Mensch hätte allein nicht überlebt, aber die Gemeinschaft hat ihn nicht zurückgelassen, obwohl das Mitschleppen sicher riskant und eine Belastung war.
Die scheinbare Schwäche ist in Wahrheit die Stärke und das Fundament unserer Zivilisation.
Wir konnten in den letzten Tagen in dieser Phase der gemeinsamen Verarbeitung eines Schocks und des damit verbundenen Schmerzes, des tiefen Mitgefühls mit Angehörigen, Freunden und Kollegen spüren, was echtes Mitgefühl macht.
Wir konnten spüren, dass emotionale Betroffenheit nicht Schwäche ist, die es politisch auszubeuten gilt, sondern eine Stärke, die uns zueinander führt und die uns aufmerksam füreinander machen kann.
Wir haben in den letzten Tagen erlebt, wie diese Kulturtechniken der aktiven Empathie für uns alle auch organisiert und wirksam werden: In der unmittelbaren Krise sind es Einsatzorganisationen, allen voran Polizei und Dienste wie Berufsrettung und Rotes Kreuz, die sofort sichern und retten; Krisenteams des Landes und verschiedener NGOs, die unmittelbar professionelle psychologische Hilfe anbieten.
Nach der Akutsituation sind es Notruf- und Beratungsangebote wie etwa Rat auf Draht, Telefonseelsorge, die Möwe und andere Kinderschutzorganisationen, die ein offenes Ohr und ein professionelles Gegenüber bieten, damit Menschen ihre Angst und den Umgang mit der gefühlten Ohnmacht zur Sprache bringen können. Mittel- und langfristig leisten Opferschutzorganisationen wie der Weiße Ring und soziale Hilfsorganisationen wie Caritas, Diakonie, Volkshilfe und Hilfswerk psychologische Hilfe, rechtliche und soziale Beratung und Unterstützung.
Es ist ein feines Netz der Nächstenhilfe, das uns Halt in der Krise bietet und von freiwilligen und hauptberuflichen Mitarbeitenden gewoben wird. Sie lassen das Rettende täglich wachsen.
3,8 Millionen Freiwillige leisten jährlich über 205 Millionen Stunden Arbeit in Vereinen und anderen gemeinnützigen Organisationen, dazu kommen über 315 Millionen Stunden an Nachbarschaftshilfe. Über 280.000 Menschen arbeiten hauptberuflich im gemeinnützigen Sektor, das sind sechs Prozent der unselbstständig Beschäftigten. Über 5,5 Millionen Menschen unterstützen gemeinnützige Organisationen mit einer Spende, in den vergangenen Jahren mit über einer Milliarde Euro.
Wo Gefahr ist, können wir alle als Rettende über uns hinauswachsen.