Robert Treichler

Robert Treichler Ein Schiff wird kommen

Ein Schiff wird kommen

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Europa plagt ein moralisches Dilemma. Es trägt die Chiffre Lampedusa, hat aber eine Bedeutung, die weit über die kleine italienische Insel hinausreicht. Es geht dabei um Leben und Tod. Als vorvergangene Woche mehr als 300 afrikanische Flüchtlinge beim Versuch, Europa zu erreichen, vor der Küste von Lampedusa ertranken, wurde der Öffentlichkeit das Dilemma auf schaurige Weise deutlich. Tagelang wurden Leichen aus dem Wasser gezogen. Europa fühlt sich schuldig, weiß aber nicht, was es tun soll.

Wenn Afrikaner sterben, weil ihnen keine andere Wahl bleibt, als ihr Leben auf der Flucht vor Krieg, Not und Gewaltherrschaft zu riskieren, dann verliert Europa – die Wiege der Menschenrechte und des Prinzips von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – seine Bestimmung; seine Seele; seine DNA; seine USP; oder wie man es auch nennen will.

Andererseits macht derselbe Kontinent gerade die Erfahrung, dass Wirtschaftswachstum keine Konstante ist und ein großzügiges Sozialmodell in die Rating-Sphäre unterhalb von BB- führen kann. Was bleibt der schwächelnden Staaten gemeinschaft anderes übrig, als sich um seine eigenen Arbeitslosen zu kümmern und seine Grenzen gegen illegale Immigration abzusichern?
Das ist das Dilemma.

Die bisherigen öffentlichen Reaktionen auf die Katastrophe von Lampedusa inkludierten folgerichtig Scham, Bestürzung, Empörung, Ratlosigkeit und manchmal auch Ignoranz – aber keinen Lösungsansatz. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Italiens Ministerpräsident Enrico Letta bewiesen immerhin ein wenig Mut und statteten Mittwoch vergangener Woche Lampedusa einen Besuch ab. „Die Bilder von hunderten Särgen werden für
immer in meinem Gedächtnis eingebrannt bleiben“, sagte Barroso, während Letta ankündigte, die Toten mit einem Staatsbegräbnis ehren zu wollen.

Die Reaktion darauf war ernüchternd. Eine zornige Menge beschimpfte die beiden Politiker und pfiff sie aus.

Die Wut ist begründet. Denn was die nationalen Regierungen und die EU in den Tagen nach dem Unglück verlautbarten, ist lächerlich: Italien soll 30 Millionen Euro bekommen, um ankommende Flüchtlinge besser versorgen zu können. Die EU-Innenministerkonferenz beschloss, der Grenzwache-Behörde Frontex den Auftrag zu erteilen, in Zukunft Such- und Rettungsaktionen für in Seenot geratene Flüchtlinge durchzuführen. Zudem soll die Schlepperei stärker bekämpft werden.
Das ist gar nichts.

Keine dieser Maßnahmen ist auch nur im Entferntesten geeignet, Afrikaner davon abzuhalten, in ein klappriges Boot zu steigen und die einzige Chance ihres Lebens zu ergreifen – oder dabei umzukommen.

Je schwieriger man ihnen die Flucht macht, desto gefährlicher werden die Routen und desto teurer die Reise. Schlepper gibt es immer und überall auf der Welt, wo Nachfrage besteht.

Dass Verantwortliche wie Innenministerin Johanna Mikl-Leitner („Die Verantwortung für mehr als 270 Tote tragen die Schlepper“) diesen Sachverhalt offenbar nicht verstehen, macht die Sache nicht einfacher. Die Wahl zwischen der ökonomisch wie auch sicherheitspolitisch selbstmörderischen Öffnung der europäischen Grenzen für alle Flüchtlinge und der Fortsetzung des Status quo plus ein paar Such- und Rettungsteams ist nur eine scheinbar ausweglose Situation.

Es gibt eine moralisch vertretbare Lösung: Will Europa gemäß seinen Grundsätzen handeln, muss es den Afrikanern einen Weg zur legalen Einwanderung öffnen. profil schlägt in der Aufmacher-Story des Auslands-Ressorts eine europäische Green-Card-Lotterie vor. Dem Beispiel der USA folgend, die seit 1995 weltweit Aufenthaltsgenehmigungen verlosen, sollen Bürger bestimmter – in diesem Fall afrikanischer – Staaten die Möglichkeit haben, an einer Verlosung von dauerhaften Visa teilzunehmen.

Die Zahl der Visa müsste zumindest groß genug sein, um Flüchtlingen berechtigte Hoffnungen zu machen, im Laufe von ein paar Jahren eine realistische Chance auf die begehrte Einreise nach Europa zu haben. Sinnvoll wäre es, den Afrikanern nach ihrer Ankunft hier Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten und auch Programme zu entwickeln, die eine spätere Rückkehr auf ihren Heimat-Kontinent für sie attraktiv machen könnten.

Diese Lösung kostet Geld und verlangt großen politischen Einsatz. Aber es gibt mehrere gute Argumente, die für sie sprechen: Eine Green Card für Afrikaner entspricht dem ethischen Werte-Kanon Europas.

Der geregelte Zustrom könnte die Beziehungen zwischen Europa und Afrika auf mehreren Ebenen verbessern.

Ein vernünftiges Maß an Zuwanderung würde dem geburtenschwachen Europa gut tun.

Es wäre eine Gelegenheit, ein wenig Wiedergutmachung für die Untaten der europäischen Kolonialvergangenheit zu leisten.

Zugegeben: Auch diese Lösung würde nicht ein für alle Mal verhindern, dass Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer kentern. Aber Europa könnte dann darauf verweisen, dass es tut, was in seiner Macht steht, anstatt die leere Phrase zu dreschen, wonach man „jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“ könne. Genau Letzteres tut Europa nämlich. Jetzt.

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