Martin Staudinger: Arabische Jugendbewegung

Eine neue Generation in Nahost und Nordafrika wird ihrem (schlechten) Ruf immer weniger gerecht.

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Wer als junger Mensch in der arabischen Welt des 21. Jahrhunderts aufwächst, hat eher keinen Haupttreffer in der Lotterie des Lebens gelandet: Er oder sie kennt im Regelfall nichts anderes als ein Leben unter Gewaltherrschaft, im Chaos nach einer gescheiterten Revolution oder – bestenfalls – im goldenen Käfig einer Petro-Diktatur. Die Zukunftsperspektiven sind trist, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Korruption, Nepotismus und Feudalwirtschaft erschweren den ökonomischen Aufstieg, mangelnde Bildungschancen den sozialen. Persönliche Entfaltung wird durch verkrustete Gesellschaftsstrukturen und religiösen Dogmatismus unterbunden.

Dazu kommen die tief sitzenden Vorurteile im Westen. Die jungen Araberinnen und Araber stehen gleichzeitig unter Aggressions- oder Passivitätsverdacht: Einerseits gelten sie als potenzielle Extremisten und Terroristen, andererseits als Modernisierungsverweigerer, die zu phlegmatisch, feige und bequem sind, um das erdrückende Erbe von Tradition und Religion zu überwinden.

Pessimismus-Pornografen wie der deutsche Autor Thilo Sarrazin rechnen geradezu lustvoll vor, wie auf diese Art und Weise aus einem konservativen, bildungsfernen, muslimischen Elternpaar mit Kindern binnen zwei Generationen drei oder vier Dutzend konservative, bildungsferne Muslime werden – wegen erwiesener, quasi genetisch programmierter Rückständigkeit und Unfähigkeit zur Weiterentwicklung.

So sind sie eben. Aber: Sind sie wirklich so?

Eine groß angelegte Studie, die jährlich durchgeführte „Arab Youth Survey“, stellt die gängigen Klischees über die größte Bevölkerungsgruppe des arabischen Raums (in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 26 Jahre) infrage. Die PR-Agentur Asda’a BCW hat dafür in 14 Staaten und den Palästinensergebieten 3300 Frauen und Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren interviewt.

Religion spielt für zwei Drittel zu große Rolle

Die Resultate sind spannend: Betrachtet man die Ergebnisse der „Arab Youth Survey“ über die vergangenen fünf Jahre, ist ein eindeutiger Trend zu erkennen: Bei den Jungen in der Region scheint etwas in Bewegung gekommen zu sein, das bislang als unveränderbar galt: das Verhältnis zur Religion, die Staat und Gesellschaft in allen Bereichen durchdringt.

Immerhin zwei Drittel (66 Prozent) der Befragten sind inzwischen der Ansicht, dass Religion in der arabischen Gesellschaft eine zu große Rolle spielt. Das mag im Vergleich zu Europa immer noch wenig sein. Entscheidend ist aber, dass dieser Anteil in den vergangenen Jahren nicht nur deutlich, sondern auch stetig gestiegen ist. 2015 war nur die Hälfte der jungen Araber dieser Meinung gewesen.

Sehnsuchtsort Vereinigte Arabischen Emiraten

Bereits 79 Prozent der Befragten fordern, dass die religiösen Institutionen ihrer Heimatländer reformiert werden. Immerhin die Hälfte macht überkommene islamische Werte dafür verantwortlich, dass die arabische Welt nicht vorankommt, sieht den Einfluss des Glaubens aber im Schwinden. Was von den Meinungsforschern nicht konkret abgefragt wurde, sind Sympathien für den radikalen und politischen Islam. Die Ergebnisse der anderen Fragen deuten aber nicht darauf hin, dass er massiven Zulauf hätte.

Übrigens ist auch der Wunsch, nach Europa auszuwandern, inzwischen deutlich schwächer ausgeprägt. Am liebsten würden die Befragten in den Vereinigten Arabischen Emiraten (44 Prozent) leben – dort sehen sie die größten Chancen und die besten Verdienstmöglichkeiten. Erst mit deutlichem Abstand folgen Kanada und die USA (jeweils knapp über 20 Prozent). Deutschland ist als Sehnsuchtsort seit dem Jahr 2015 vom dritten auf den fünften Platz zurückgefallen.

„Bedürfnisse und Träume weder radikal noch revolutionär"

Die jungen Araber des Jahres 2019 seien jedenfalls anders als ihre Eltern und älteren Geschwister, so die „Arab Youth Survey“ zusammenfassend – eine „pragmatische Generation“, deren „Bedürfnisse und Träume weder radikal noch revolutionär sind“ und bei der es unwahrscheinlich sei, „dass sie wie ihre Eltern falschen Utopien oder ,charismatischen‘ Führern verfallen“. Schon klar: Meinungsforschung ist keine exakte Wissenschaft, die belastbare Zukunftsprognosen erlaubt. Diese Schlussfolgerungen der „Arab Youth Survey“ beruhen auf einer Umfrage, die eine begrenzte Zahl von Personen erfasst und sich zudem auf die größeren Städte des Nahen Ostens und Nordafrikas konzentriert hat: also auf urbane und damit tendenziell liberalere Milieus. Arbeits- und Perspektivlosigkeit im arabischen Raum können radikale Tendenzen befördern, Katastrophen und Konflikte unvorhersehbare Entwicklungen auslösen.

Klar ist aber ebenso: Jugendliche übernehmen nicht zwangsläufig die Ideologie ihrer Eltern (wer selbst Kinder hat, kann ein Lied davon singen) – das gilt in vermehrtem Ausmaß auch für die arabische Welt. Und gesellschaftliche Entwicklungen funktionieren nicht, wie es Sarrazin und andere Untergangspropheten gerne darstellen, wie mathematische Reihen, in denen sich Probleme ins Unendliche potenzieren.

Und wenn schon die jungen Araber beginnen, ihre Autoritäten zu hinterfragen, dann könnten wir schön langsam damit beginnen, das auch mit unseren eigenen Vorurteilen zu tun.