Martin Staudinger: Lautstark sprachlos

Wir sind derzeit unfähig, rational über das Thema Migration zu reden. Das sollte sich schleunigst ändern.

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Doch, es gibt einen Punkt, in dem Befürworter und Gegner des UN-Migrationspakts einer Ansicht sein dürften: Die globale Mobilität ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Aber spätestens damit endet die Übereinstimmung auch schon wieder – wenn es nicht schon daran gescheitert ist, dass die einen „Bedrohung“ statt „Herausforderung“ für angebracht halten, die anderen hingegen lieber so etwas wie „Chance“ lesen würden. Und da sind wir noch weit entfernt von den extremeren Bereichen des Meinungsspektrums.

Kein anderes Wort ist aktuell dermaßen emotional und ideologisch aufgeladen wie „Migration“, keines löst heftigere Reaktionen und akutere Angstzustände aus, keines polarisiert stärker. In Zeiten von #MeToo will das etwas heißen.

Was das bedeutet, wurde in den vergangenen Wochen am Beispiel des „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“, besser bekannt als UN-Migrationspakt, mehr als deutlich. Das Papier war im Auftrag aller UN-Mitgliedsstaaten (ausgenommen den USA) von Diplomaten der jeweiligen Regierungen ausgearbeitet worden. Fast zwei Jahre lang hatte sich kaum jemand dafür interessiert, auch nach der Präsentation der Endfassung im Juli blieb vorerst alles ruhig. Doch seit ein paar Wochen steigern sich Teile der Öffentlichkeit in einen Gemütszustand hinein, der inzwischen irgendwo zwischen Furor und Panik oszilliert.

Glaubt man den Behauptungen, die nicht nur in den sozialen Netzwerken umgehen, dann bedeutet das Abkommen nichts weniger als eine Verschriftlichung der von finsteren Mächten betriebenen Abschaffung des Abendlandes.

Da ist von einem „Plan zum Bevölkerungsaustausch“ und von „bedingungsloser Kapitulation“ die Rede. Der Pakt sei ein Instrument zur „Zerstörung der Völker“ und mache „die Zuwanderungsländer zu neuen Siedlungsgebieten von Menschen anderer Völker, Religionen und Kulturen“, wird prophezeit.

Dass derlei in den umnebelteren Regionen des Internet zirkuliert, wäre nicht weiter bemerkenswert: Daran hat man sich inzwischen gewöhnt. Beunruhigend ist allerdings, dass die oben zitierten Äußerungen von der AfD stammen – und damit von einer mit 92 Sitzen im deutschen Bundestag vertretenen Partei; und gänzlich beklommen macht, dass sogar prinzipiell grundvernünftige Stimmen in der Auseinandersetzung um den Migrationspakt zeitweise Töne anschlagen, die man sonst eher von Verschwörungstheoretikern kennt: etwa Stefan Aust, ehemaliger „Spiegel“-Chefredakteur und amtierender Herausgeber der „Welt“, der von „mächtigen Flüchtlings- und Migrantenorganisationen“ raunt, die dem Papier ihre „Handschrift“ aufgedrückt hätten.

Die Flüchtlingskrise hat offenbar ein gesamtgesellschaftliches Trauma verursacht.

Könnten zwischendurch bitte alle einmal kurz durchatmen? Wenn UN-Abkommen auch nur ansatzweise die Wirkmacht hätten, die dem Migrationspakt zugetraut wird, dann wäre 1) der Klimawandel längst gestoppt, 2) der Hunger auf der Welt besiegt, 3) die Frauen- und 4) die Rassendiskriminierung abgeschafft und 5) die Welt generell ein Paradies.

Was keineswegs heißen soll, dass der Pakt – der Anfang nächster Woche von mehr als 150 UN-Mitgliedsstaaten in Marrakesch beschlossen wird – keine Folgen hat; und ebenso wenig, dass man nicht darüber reden, debattieren, streiten sollte (oder hätte sollen – dass das nicht geschah, ist nicht zuletzt dem monatelangen Desinteresse jener zuzuschreiben, die sich jetzt besonders lautstark über den Pakt ereifern).

Man kann den Versuch, sich auf allgemein anerkannte Rahmenbedingungen im Umgang mit Migranten zu einigen, legitimerweise als vernünftig betrachten. Man kann aber ebenso legitimerweise Bedenken gegen diverse darin enthaltene Bestimmungen äußern und die Frage aufwerfen, ob die Gefahr besteht, dass sich diese über das sogenannte „Soft Law“ ungebeten in den allgemeinen Rechtsgebrauch einschleichen (was bislang übrigens nicht abschließend geklärt werden konnte).

Der Migrationspakt war ein Versuch, ein Gespräch auf internationaler Ebene zu führen und dabei einen Ausgleich zwischen den Interessen aller Beteiligten zu finden.

Die Tatsache, dass sich die ÖVP/FPÖ-Regierung – die übrigens federführend in die Verhandlungen eingebunden war (profil 48/2018) – nachträglich von dem Abkommen abgewandt hat und das schrille Falsett, in dem die Auseinandersetzung geführt wird, zeigen allerdings: Wir sind derzeit unfähig, das Thema Migration rational miteinander zu diskutieren. Offenbar hat die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 tatsächlich ein gesamtgesellschaftliches Trauma verursacht, das hierzulande durch eine verantwortungslose Politik verstärkt wird, die sich in argumentative Komplizenschaft mit den Justament-Gegnern des UN-Abkommens begibt.

Die Folge ist eine Art lautstarke Sprachlosigkeit, die selbst einen Konsens über die Grundlagen der Debatte nahezu unmöglich macht.

Das sollte sich schleunigst ändern. Denn wenn kein Wunder geschieht, werden Migration und ihre Herausforderungen/Bedrohungen/Chancen in den kommenden Jahrzehnten ein bestimmendes Thema für Europa sein. Und da empfiehlt es sich, dass zumindest wir miteinander im Gespräch bleiben.