Martin Staudinger: Unter null

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Das gute Gefühl dabei, EU-Europäer zu sein, lag bislang nicht zuletzt an der Gewissheit, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen: Oder fällt jemandem eine andere Staatengemeinschaft ein, deren Bekenntnis zur Humanität so umfassend ist, dass in ihrem Grundsatzvertrag die Achtung der Menschenwürde noch vor der Wahrung von Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit genannt wird?

Eben.

Womit wir schon im EU-Anwärterland Serbien wären: Dort herrschen seit mehr als einer Woche tiefwinterliche Verhältnisse. Temperaturen weit unter dem Nullpunkt machen nicht nur der einheimischen Bevölkerung zu schaffen, sondern vor allem obdachlosen Asylsuchenden, für die es nach der Schließung der Balkanroute kein legales Weiterkommen mehr gibt. Tausende von ihnen vegetieren in aufgelassenen Fabriken, leerstehenden Lagerhallen und anderen nicht mehr benutzten Gebäuden dahin. Fotos aus Belgrad zeigen frierende Flüchtlinge und Migranten – mehrheitlich junge Männer, die aufgrund ihrer Herkunft kaum Chancen auf Aufnahme in Europa haben; vereinzelt aber auch Kinder und Minderjährige – die sich notdürftig an offenen Feuern wärmen und im Schnee waschen.

Wem das nicht zumindest ein bisschen nahe geht, dem ist vermutlich sogar der rechte Flügel von FPÖ, AfD und vergleichbaren Parteien zu links.

Sie fürchten, in Obhut der Regierung interniert, abgeschoben oder zu Asylanträgen außerhalb der EU genötigt zu werden.

An dieser Stelle muss aus journalistischer Redlichkeit angemerkt werden, dass die medial verbreiteten Szenen aus Belgrad nur einen Teil der Geschichte erzählen. Serbien verfügt nämlich sehr wohl über Quartiere, in denen sich Asylsuchende vor der Kälte schützen könnten. Dass diese Unterkünfte kaum in Anspruch genommen werden, liegt einerseits daran, dass viele Flüchtlinge und Migranten den Behörden misstrauen: Sie fürchten, in Obhut der Regierung interniert, abgeschoben oder zu Asylanträgen außerhalb der EU genötigt zu werden. Ein weiterer Grund besteht wohl auch darin, dass sie (und auch manche Aktivisten) hoffen, Aufmerksamkeit auf ihre unerträgliche Situation zu lenken, um so politischen Druck für die Aufnahme in Europa zu erzeugen.

Die Asylwerber selbst versuchen also, die viel zitierten „hässlichen Bilder“ für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren? Wenn dem so ist, dann sollte man es ihnen, verzweifelt, wie sie sind, jedenfalls nachsehen.

Schlimmer ist hingegen der Verdacht, dass die europäische Politik das Gleiche versucht – bloß mit genau umgekehrten Absichten. Immerhin hat sich mittlerweile EU-weit eine maßgeblich von Österreich ersonnene Abschreckungsdoktrin durchgesetzt, die im Kern folgendermaßen lautet: Es muss um jeden Preis vermieden werden, auch nur den Anschein zu erwecken, Flüchtlinge und Migranten seien hier willkommen. Demgemäß kann das weithin sichtbare Elend von wenigen Tausend dienlich sein, viele Millionen zu unserem und ihrem Besten davon abzuhalten, sich überhaupt auf den Weg zu machen.

Als Beweis für die Wirkungsfähigkeit dieser Doktrin wird in erster Linie die Tatsache angeführt, dass der Andrang auf die Balkanroute im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen ist – und damit auch die Zahl der Todesopfer auf dem Seeweg nach Griechenland. Abgesehen davon, dass dieser Erfolg ohne den umstrittenen Deal mit der Türkei kaum denkbar gewesen wäre (und auf der Mittelmeerroute weiterhin massenhaft gestorben wird): Es kann wohl niemand ernsthaft annehmen, dass es eine neue Völkerwanderungswelle auslösen würde, wenn die EU den Gestrandeten der Balkanroute zumindest über die ärgsten Kältetage hilft. Und: Auch eine Reduktion der Flüchtlingszahlen kann keine Rechtfertigung darstellen, Asylsuchende um der generalpräventiven Wirkung willen frieren zu lassen.

Die hiesige Regierung beschäftigt sich lieber mit Plänen zur weiteren Tieferlegung von Obergrenzen.

Auf die Idee, dass dies der Hintergedanke sein könnte, muss man angesichts der nicht einmal halbherzigen Versuche, Abhilfe für die beklagenswerte Situation in Serbien zu schaffen, aber fast kommen. Oder würde die EU auch dann tatenlos zusehen, wie Tausende Menschen ohne ausreichende Behausung der Kälte ausgesetzt sind, wenn es sich nicht bloß um unerwünschte Zuwanderer handelte?

Vermutlich nicht. In diesem Fall bleibt es jedoch alleine privaten Helfern und NGO’s überlassen, sich um die Obdachlosen zu kümmern. Die Verantwortlichen in Brüssel reden sich darauf aus, Serbien ohnehin finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt zu haben, die das Land aber nicht in Anspruch nehme. Serbien wiederum behauptet, das Geld gar nicht zu benötigen, weil die Asylsuchenden jede Hilfe verweigern würden. Und von Österreich, das sich eigentlich immer gerne seiner Kompetenz als Balkanroutenplaner rühmt, ist zu diesem Thema überhaupt nichts zu hören. Die hiesige Regierung beschäftigt sich lieber mit Plänen zur weiteren Tieferlegung von Obergrenzen.

Währenddessen sagt die Wetterprognose für Belgrad zwei weitere Wochen mit Temperaturen um den Gefrierpunkt voraus. Nur für den Fall, dass jemand überprüfen möchte, ob er als EU-Europäer immer noch auf der richtigen Seite steht: Das unbedingte Bekenntnis zur Achtung der Menschenwürde findet sich in Artikel 2 des EU-Vertrages.

[email protected] Twitter: @martstaudinger