Martin Staudinger: Verdammte Pflicht

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verlangt, dass die europäischen Länder ihre IS-Kämpfer zurücknehmen. Er hat recht.

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Wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Drohungen ausstößt – was er oft und gerne tut –, dauert es oft ein Weilchen, bis er sie tatsächlich wahrmacht. Diesmal ging es aber sehr schnell: Ende vergangener Woche begann die Regierung in Ankara wie angekündigt mit der Abschiebung von (mutmaßlichen) Mitgliedern der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) und ihren Angehörigen, die jüngst beim Einmarsch türkischer Truppen in Syrien gefasst worden waren. In Deutschland wurden per Flugzeug zunächst zwei alleinstehende Frauen und eine siebenköpfige Familie abgeladen, in Großbritannien ein junger Mann; in Frankreich sollen elf islamistische Extremisten folgen.

Zuvor hatte Europa Erdoğans ultimativ vorgetragene Forderung, IS-Kämpfer müssten von ihren Heimatstaaten zurückgenommen werden, einfach ignoriert – nicht nur, weil die Türkei beim Entstehen der Terrormiliz eine mehr als undurchsichtige Rolle gespielt hat. Von Erpressung war die Rede, Verweigerungshaltung machte sich breit, auch in Österreich, das momentan gar nicht betroffen ist. Nach Auskunft von Außenminister Alexander Schallenberg befindet sich kein hiesiger Staatsbürger, der sich der Terrormiliz angeschlossen hat, in türkischem Gewahrsam. Es könne also auch niemand nach Hause geschickt werden.

Das Problem dürfte sich dennoch irgendwann stellen: Inzwischen hat die türkische Zeitung „Hürriyet“ von zwei möglichen Kandidaten für eine Rückführung nach Österreich berichtet (laut Außenministerium gibt es dafür allerdings keine offizelle Bestätigung). Zudem weiß die Bundesregierung von insgesamt zwei Dutzend Staatsbürgern mit IS-Hintergrund, die im Irak und in Syrien inhaftiert sind.

Die Frage, welchen Grund es gibt, sie wieder ins Land zu lassen, ist naheliegend. Diese Männer und Frauen haben sich aus freien Stücken einer Mörderbande angeschlossen, deren Brutalität ihresgleichen sucht. Vielleicht nicht bei allen, aber doch bei den meisten liegt der Verdacht nahe, dass sie selbst grausame Verbrechen begangen haben oder daran beteiligt waren. Noch dazu sind die meisten von ihnen eingebürgerte Asylwerber, die mit ihrer Entscheidung für den Extremismus die Werte und die Gastfreundschaft des Landes verraten haben, das sie aufgenommen und vor Verfolgung und Unterdrückung geschützt hat.

Sollen sie, mag man denken, dafür doch in ihrem nahöstlichen Kotter verrotten. Und selbst abseits derlei reflexhafter Rachegedanken gibt es Argumente gegen eine Rückführung der mutmaßlichen IS-Verbrecher. Dazu gehört die Idee, ihre Strafverfolgung den örtlichen Behörden zu überlassen oder einen internationalen Strafgerichtshof im Irak oder in Syrien einzurichten – auch, um den Opfern die Erfahrung zu ermöglichen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Allerdings ist beides illusorisch.

Ein Staat trägt Verantwortung für seine Bürger – im Guten wie im Bösen.

Schwerer wiegt da schon der Einwand, dass es aufgrund der räumlichen und zeitlichen Entfernung in Europa schwierig sei, die Vorwürfe gegen die Dschihadisten gerichtlich aufzuklären. Freisprüche im Zweifel dürften unweigerlich folgen. Für die Leidtragenden des IS-Terrors wäre das ein Affront, für die Sicherheitsbehörden würde sich die Notwendigkeit einer langwierigen, personal- und kostenintensiven Überwachung von Personen ergeben, die möglicherweise immer noch eine akute Gefahr darstellen.

Dennoch ist Erdoğans Position durchaus verständlich. Zunächst trägt ein Staat Verantwortung für seine Bürger, und zwar im Guten wie im Bösen. Er ist verpflichtet, ihnen beizustehen, wenn sie unschuldig in Not geraten sind; er kann sich aber auch nicht für unzuständig erklären, wenn sie irgendwo Schaden angerichtet haben. Das gilt selbst für jene, denen er aus humanitären Gründen einen Pass in die Hand gedrückt hat, um dann von ihnen durch die Hinwendung zum Terrorismus betrogen zu werden.

Zudem sprechen ganz profane Gründe dafür, IS-Leute nach Europa zurückzuholen. Die Lager, in denen derzeit Tausende Angehörige der Terrormiliz festgehalten werden, sind alles andere als sicher. Mit Beginn der türkischen Offensive in Syrien Anfang Oktober haben die kurdischen Bewacher Sicherheitspersonal abgezogen, um gegen Erdoğans Armee und deren arabische Hilfstruppen zu kämpfen.

Währenddessen betreiben die in den Camps verbliebenen IS-Ideologen Radikalisierungsarbeit. „Sie ziehen auch Frauen, die an sich genug haben vom Dschihad, auf ihre Seite, um dann Massenfluchten zu organisieren“, sagte eine französische Rechtsanwältin, die Islamistenwitwen in kurdischer oder türkischer Haft vertritt, laut „Standard“. Tatsächlich ist es in den vergangenen Wochen Hunderten Extremisten gelungen, aus den Lagern zu entkommen.

Auf freiem Fuß stellen die IS-Anhänger die größte Gefahr dar – derzeit für die Nahost-Region, bald womöglich auch für Europa. Sie hier in Gewahrsam zu nehmen und einem ordentlichen Verfahren (etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag oder einem eigenen Sondertribunal) zu unterziehen, verhindert vermutlich am besten, dass sie weiteren Schaden anrichten. Und das ist für Europa eine – wenn auch verdammte – Pflicht.