Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Gaza-Missverständnisse

Gaza-Missverständnisse

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Israels PR-Desaster im Gaza-Konflikt fällt diesmal noch deutlicher als 2009 aus: 1047 getötete Palästinenser stellte Oscar Bronners „Standard“ grafisch eindrucksvoll aufbereitet erst kürzlich den 47 getöteten Israelis gegenüber, und kein Medium der Welt kann vermeiden, die schon wieder gestiegenen Zahlen zu melden. Auch die Statistik der WHO, wonach 832 der getöteten Palästinenser „Zivilisten“, darunter 212 „Kinder“, waren, ist nicht strittig.

Die „Unverhältnismäßigkeit“ der israelischen Kriegsführung scheint quasi mathematisch den Tatbestand des „Kriegsverbrechens“ zu erfüllen.
Israels Einwände werden kaum wahrgenommen: Ein „Kriegsverbrechen“ liegt zweifelsfrei vor, wenn eine Kriegspartei militärische Einrichtungen in zivilen Wohnstätten installiert – und genau das tut die Hamas seit Jahren konsequent. In drei von der UNO als Bunker übernommenen Schulen lagerten Hamas-Raketen. „Wir verwenden Raketen, um unsere Frauen und Kinder zu schützen – die Hamas verwendet Frauen und Kinder, um ihre Raketen zu schützen“, formulierte Premier Benjamin Netanjahu ebenso treffend wie erfolglos.

Die Öffentlichkeit steht unter dem Eindruck dessen, was sie im Fernsehen sieht: dass israelische Raketen auch Gebäude treffen, in denen keine Raketenrampen installiert sind, ja, die kriegsrechtlich sogar unter besonderem Schutz stehen. Gleich drei Spitäler und Schulen wurden getroffen. Auf einem Spielplatz nächst dem Schifa-Spital starben acht Kinder durch Splitter. Ein israelischer Militärsprecher wollte die Ursache in einer vorzeitig auf eigenem Gebiet explodierten Hamas-Rakete sehen – CNN-Reporter vor Ort widerlegten ihn binnen Minuten. Unschuldige Opfer sind die Regel.

Zwar will Israels Militär, schon aus Propaganda-Gründen, weder Frauen noch gar Kinder töten – es fordert die Zivilbevölkerung jedes Mal rechtzeitig auf, ihre Wohnungen zu verlassen, und die Gebäude, in denen sie dann untergebracht wird, sind zwischen der UNO und Israels Militär als Tabu-Zonen vereinbart –, aber in allen Kriegen, die mit Raketen und aus der Luft geführt werden, zeigt sich, dass es völlig ausgeschlossen ist, das Treffen schutzwürdiger Ziele zu vermeiden.

Ich behaupte: Ein ernsthafter Militärschlag Israels gegen die Hamas musste in jedem Fall und selbst bei angemessener Vorsicht zu den beschriebenen zivilen Opfern führen. Es gibt keinen größeren Militäreinsatz, bei dem nur militärische Einrichtungen und Soldaten eliminiert werden. Schon gar nicht gibt es ihn gegen Gruppierungen wie die Hamas oder die Taliban: Selbst penibel auf Korrektheit bedachte deutsche Aufklärer haben in Afghanistan zum Tod Dutzender Zivilisten durch einen Luftschlag beigetragen.

Man kommt im Gaza-Konflikt trotz scheinbar so eindeutiger Zahlenverhältnisse nicht um die Gretchenfrage herum: Hatte Israel eine andere Wahl als einen massiven Militärschlag? Ich behaupte: Nein! Kein Staat, der militärisch stark genug ist, nähme hin, dass seine Bevölkerung seit Monaten unter steigendem Raketenbeschuss steht – auch wenn die meisten dieser Raketen abgefangen werden und es den Menschen meistens gelingt, rechtzeitig Bunker zu erreichen. 2014 hat die Hamas aus Gaza 2950 Raketen auf Israel abgeschossen. Mehr denn je zuvor.

Man stelle sich vor, korsische Separatisten feuerten diese Raketen auf Frankreich ab – sämtliche Franzosen, die derzeit gegen Israels Militäreinsatz protestieren, forderten einen solchen energisch von Frankreichs Armee.

Es gilt, folgenden Tatbestand nicht konsequent zu verdrängen: Es hat nie einen israelischen Militärschlag in Gaza gegeben, ohne dass die Hamas zuvor aus Gaza auf Israel geschossen hat. Der Konflikt wäre militärisch in der Sekunde beendet, in der die Hamas ihre Angriffe auf Israel definitiv einstellte. (Einmal hat Israel sich bereit erklärt, Hamas-Angriffe durch drei Monate nicht mit Gegenangriffen zu beantworten, um dieser Option eine psychologische Chance zu geben – die Hamas hat unverändert jede Menge Raketen abgefeuert.) Ich glaube, dass jeder Staat dieser Erde diesen permanenten Raketenbeschluss früher oder später mit einem massiven Militärschlag beantwortete; dass dabei jeder Staat – um eigene Leute zu schonen – in erster Linie seine Luftüberlegenheit nutzte; und dass damit in einem von den Terroristen kontrollierten Gebiet eine ähnliche Zahl schuldloser ziviler Opfer unvermeidbar wäre.

Mein zentraler Vorwurf gegen Israel ist ein anderer: Es hat in mühsamen Verhandlungen anerkannt, dass ein Palästinenserstaat Voraussetzung für die friedliche Lösung eines Konfliktes ist, den in Wirklichkeit die Engländer grundgelegt haben, indem sie Palästinensern wie Juden im selben Gebiet einen Staat versprachen.

Aber statt dass Israel diesen unvermeidliche Palästinenserstaat jetzt nach Kräften befördert, torpediert es ihn: Voran durch einen von der aktuellen Regierung intensivierten Siedlungsbau, der an ewige Nichtanerkennung dieses Staates grenzt. Und da soll die Hamas das Existenzrecht ­Israels anerkennen?

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