Mario Holzner ist Leiter des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw).
Meinung

Osteuropa braucht ein neues Geschäftsmodell

Die EU-Mitglieder der Region müssen auf Innovation setzen, um den grünen und digitalen Wandel zu schaffen. Die Demografie ist neben Russlands Krieg in der Ukraine die größte Herausforderung.

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Von Mario Holzner, Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche

Wer dieser Tage an Osteuropa denkt, denkt zwangsläufig an Russland. Putins Herrschaft wankt. Fällt sie, hätte das enorme Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung der EU-Mitglieder in Ostmitteleuropa. Noch ist es aber nicht so weit, daher lohnt es sich, die längerfristigen wirtschaftlichen Herausforderungen dieser Länder zu beleuchten.

Nach wie vor wachsen Polen, Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien grosso modo mehr als doppelt so stark wie Westeuropa – trotz Ukraine-Krieg und Inflation. Das Baltikum, Tschechien und die Slowakei leiden zwar stärker, und Ungarn ist auch wirtschaftlich ein trauriger Sonderfall, insgesamt zeigt sich die Region aber erstaunlich widerstandsfähig. Das hat auch positive Auswirkungen auf Österreich. Zusammengenommen sind die Länder der Region für uns der zweitwichtigste Handelspartner nach Deutschland.

Alles gut also im traditionellen Wachstumsmarkt? Nicht ganz. Das bisherige Erfolgsmodell, als „verlängerte Werkbank“ westlicher Konzerne arbeitsintensive Produktionen zu übernehmen, stößt langsam an seine Grenzen. In Kombination mit der voranschreitenden Dekarbonisierung und Digitalisierung macht das ein neues, innovationsbasiertes Wirtschaftsmodell notwendig. Nur dann werden die Ostmitteleuropäer in der Lage sein, mit Westeuropa gleichzuziehen.

Alles gut im traditionellen Wachstumsmarkt? Nicht ganz.

Das Grundproblem: Die zentralen technologischen Kompetenzen und jene Teile der Produktion mit der höchsten Wertschöpfung befinden sich in den „Headquarters Economies“ Westeuropas – also zum Beispiel in Deutschland oder Österreich. Bestes Beispiel dafür ist die für die Region so wichtige Autoindustrie. Vor allem in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Slowenien ist ihre volkswirtschaftliche Bedeutung hoch. Die große Abhängigkeit von ihr könnte für einige Länder zum Problem werden, bedenkt man etwa, dass die Herstellung von Elektroautos viel weniger arbeitsintensiv ist als die von Modellen mit Verbrennungsmotor.

Auch Ostländer werben um Gastarbeiter

Ostmitteleuropa steht längerfristig aber vor noch größeren Herausforderungen. Die wichtigste davon ist die Demografie. In den vergangenen zwei Jahrzehnten schrumpfte die Bevölkerung vielerorts zwischen zehn und 20 Prozent. Der in manchen Ländern bereits spürbare Arbeitskräftemangel wird sich damit verschärfen. Mittlerweile gibt es in Kroatiens Tourismus Saisonniers aus Sri Lanka, in Ungarns Fabriken Arbeiter aus der Mongolei – und das, obwohl die Regierungen dieser Länder Zuwanderung sehr skeptisch gegenüberstehen. Mittelfristig wird man diese Haltung überdenken müssen.

Was aber tun, damit nicht noch mehr junge, gut ausgebildete Menschen Ostmitteleuropa verlassen? Eine „Politik des guten Lebens“ ist Teil der Antwort. Gute Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, leistbares Wohnen, Grün in den Städten, Breitbandinternet, guter öffentlicher Verkehr, eine Anhebung der Mindestlöhne und ein funktionierender Sozialstaat müssen forciert werden. Es kann nicht sein, dass junge Menschen – so wie das heute in der Region leider üblich ist – bis Anfang 30 bei ihren Eltern wohnen, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten können.

Zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in Zukunftsbranchen braucht es ein Überangebot an (digital) Hochqualifizierten. Außerdem müssten sich die Ostmitteleuropäer auch stärker in Brüssel engagieren. Dazu sollten sie die von ihnen bisher unterstützte Austeritätspolitik auf EU-Ebene über Bord werfen. Schließlich profitieren sie von grünen und digitalen Investitionen der EU am allermeisten.

Reformen in Justiz und Verwaltung wären ebenfalls dringend notwendig. Viele Länder haben große Probleme damit, die vorhandenen EU-Mittel auszuschöpfen. Vor allem brauchen sie eine strategische Industriepolitik nach dem Vorbild Ostasiens, um global wettbewerbsfähige Unternehmen hervorzubringen. Mut, Visionen und Tatkraft sind dafür wichtige Voraussetzungen – genauso wie ein rasches Ende des Ukraine-Krieges und ein neues, demokratisches Russland nach Putin.