Das Schulmodell der Industriellenvereinigung lässt sich kaum erfolgreich verwirklichen, wenn sich ihr Steuermodell durchsetzt

Peter Michael Lingens: Bürgerliche Widersprüche

Bürgerliche Widersprüche

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Mein Kollege Hoffmann-Ostenhof hat zu Recht gefeiert, dass sich mit der Industriellenvereinigung (IV) die wohl wichtigste „bürgerliche“ Organisation für eine Gesamt- und Ganztagsschule ausspricht und den Widerstand der ÖVP damit wohl endgültig killt.

Darin liegt eine große Chance – allerdings auch ein großes Risiko: Dann nämlich, wenn sich die künftige Gesamtschule die aktuelle „Neue Mittelschule“ zum Vorbild nimmt. Denn so richtig es ist, dass man Schüler nicht mit zehn Jahren in „AHS-Taugliche“ und „AHS-Untaugliche“ trennen soll, so aufwendig ist es, Hochbegabte und Lernschwache in derselben Klasse zu unterrichten. Dass es in Finnland so gut gelingt, hat folgende Voraussetzungen: Die Lehrer sind eine akademische Auslese und haben eine intensive fachliche wie didaktische Ausbildung hinter sich. Auf einen Lehrer kommen nur 14 Schüler. Zusätzlich nehmen sich Sozialarbeiter und Psychologen besonders schwieriger Fälle an. Die Schulen sind in der Unterrichtsgestaltung weitgehend autonom. Die Gebäude sind tauglich für Ganztagsschulen.

In Österreich ist derzeit keine dieser Voraussetzungen gegeben.
Deshalb kann es auch passieren, dass die Gesamtschule „made in Austria“ bloß die (für sich genommen funktionierenden) Gymnasien verdrängt und sich als kritische Monokultur erweist: Mangels geeigneter Voraussetzungen könnte die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems durchaus auch sinken statt steigen.

Um finnische Voraussetzungen zu schaffen, brauchte der Staat Geld: Er muss viel mehr Schulpersonal länger ausbilden, länger bezahlen und die meisten Gebäude für Ganztagsschulen erst errichten.

Das verträgt sich schlecht mit dem Steuermodell der IV, das fordert, dass der Staat spart und mit einer niedrigeren Steuerquote auskommt.
Dabei hat auch dieses Steuermodell durchaus Meriten: So will es die absurde Situation ändern, dass man bis zu einem Jahreseinkommen von 11.000 Euro gar keine, dann aber gleich 36,5 Prozent Lohnsteuer zahlt. Stattdessen sollen Jahreseinkommen ab 9280 Euro mit zehn Prozent und von 16.000 bis 35.000 Euro mit 20 Prozent besteuert werden. Auch den Höchststeuersatz von real freilich meist nur 45 Prozent will die IV erst bei höheren Gehältern anwenden.

Ein Teil dieser beträchtlichen steuerlichen Entlastung will die IV dadurch kompensieren, dass die Konsumenten mit einer auf 22 Prozent erhöhten Mehrwertsteuer belastet werden. Die höhere Besteuerung der Geringverdiener soll abgefedert werden, indem die Mehrwertsteuer auf ihre Hauptausgabe – Nahrungsmittel – auf fünf Prozent gesenkt wird.
Das alles ist nicht „zynisch“, wie der ÖGB sofort behauptete, sondern durchaus diskutabel.

Allerdings will die IV zur Gegenfinanzierung auch die Ausgaben des Staates senken, was noch nie zugunsten der sozial Schwachen ausgegangen ist, weil sie am meisten auf möglichst umfangreiche Leistungen des Staates angewiesen sind. Und wie immer fordert die IV, die Belastung von Unternehmen und Unternehmern zu senken, um deren Investitionsbereitschaft zu erhöhen.

Diese „angebotsorientierte“ Politik betreiben wir seit über einem Jahrzehnt: von der Abschaffung der Erbschafts- und Schenkungssteuer über die Senkung der Körperschaftssteuer bis zur Einführung einer pauschalen Kapitalertragssteuer, eines Freibetrages für investierte Gewinne, eines vorteilhaften Stiftungsrechts und einer großzügigen Gruppenbesteuerung. (Österreichs größtes Unternehmen OMV führte zeitweise nur 14 Prozent Steuer ab.)

Alle diese steuerlichen Begünstigungen haben die
Investitionen indessen keineswegs boomen lassen, und derzeit sind sie niedrig wie nie. Deutlich erhöht hat sich nur die Gewinnquote – während die Lohnquote (also das, was der Masse in der Hand bleibt) ständig gesunken ist. In Deutschland und Österreich sind sogar die Reallöhne
gefallen. Wir haben keine Angebots-, sondern eine Nachfrage-Krise.
Wenn also derzeit eine Steuerreform stattfindet, meine ich, dass nicht die Unternehmen, sondern nur die Arbeitnehmer steuerlich entlastet gehören; und dass ein Teil der Gegenfinanzierung sehr wohl durch höhere Vermögenssteuern erfolgen sollte, wie sie die IV energisch, wenn auch inkonsequent, ablehnt – denn immerhin tritt sie für
höhere Grundsteuern ein.

In Summe komme ich nicht umhin, aus dem IV-Modell einen massiven Steuereinnahme-Verlust für den Staat abzuleiten – tatsächlich will sie die Steuerquote von 42 auf 38 Prozent senken.

Das verhindert nicht nur finnische Bedingungen für Schulen – es vermindert vor allem die Stärkung einkommensschwacher Schichten durch Sozialleistungen und damit ihren Konsum.

Kaum zum Vorteil des Absatzes industrieller Güter.

Ich fürchte, dass es den Interessen der Industrie auch sonst nicht dient: Denn es vermindert auch staatliche Großaufträge, die sie dringend braucht.

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