Vom Unterschied zwischen Heinrich Treichl und Bankern.

Peter Michael Lingens: Abschied von einem liberalen Kunstwerk

Abschied von einem liberalen Kunstwerk

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Heinrich Treichl ist tot. In seinem 102. Lebensjahr „sanft entschlafen“, wie die Frau, in die er sich mit 90 heftig verliebte und die ihn bis zuletzt umsorgte, mich wissen ließ.Schöner kann man nicht sterben.
Schöner leben wahrscheinlich auch nicht.

Heinrich Treichl war ein vom Schicksal Begünstigter: „Von Familie“, wie Thomas Mann es in den „Buddenbrooks“ nennt, wenn jemandes Familie nicht bloß „angesehen“, „kultiviert“ oder „reich“, sondern alles zugleich ist – und das nicht erst seit gestern. Seine Mutter verband ihn mit den Thorschs und Todescos, den nach den Rothschilds reichsten Familien der Monarchie, in die sein Urgroßvater, der Erbauer der Wiener Votivkirche Heinrich von Ferstel, eingeheiratet hatte. Obwohl die NS-Zeit beide Familien fast ausgelöscht hat, vermittelte diese Herkunft Treichl doch ein Auftreten, das einen Milliardär wie Hannes Androsch bis zuletzt verunsicherte, wenn er ihm gegenübertrat.

Allerdings hat nicht nur Androsch Treichl, sondern auch Treichl Androsch ein wenig bewundert. Denn so wie der Floridsdorfer durch zielstrebige Tüchtigkeit zum Finanzminister, Banker und Milliardär aufgestiegen ist, ist Treichls Vater aus einer Salzburger Bauernfamilie durch zielstrebige Tüchtigkeit zum Bankier aufgestiegen.

Als seine Bank 1926 zusammenbrach, wendete er sein gesamtes Vermögen (und seine Frau Teile des ihren) auf, um die Gläubiger schadlos zu halten. Das, meinte Treichl, sei der Unterschied von damals zu heute.

Auch Heinrich Treichl war zielstrebig und tüchtig: 1970 brachte er es zum Generaldirektor von Österreichs damals größter und mächtigster Bank, der Creditanstalt-Bankverein (CA). Unter seiner Regie wurde sie von einer Bank, die fast nur Unternehmer und Reiche zu Kunden hatte, zu einer Bank für alle.

Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Bruno Kreisky sie unter Treichls Nachfolger Hannes Androsch an den Rand des Konkurses brachte. Indem er erklärte, dass die Republik Österreich für alle Verbindlichkeiten der Verstaatlichten Industrie hafte, bewirkte er, dass die staatliche CA und die staatliche Länderbank der Verstaatlichten Industrie, voran der Voest, jede Menge Geld kreditierten – das sie prompt verspekulierte. Wie heute beim Hypo-Skandal rettete der Steuerzahler Voest, Länderbank und CA mit Milliarden.

Treichl hat darüber nie gespottet, sondern sich zeit­lebens vorgeworfen, dass auch er nicht in der Lage gewesen war, die Bank dem Einfluss der Politik gänzlich zu entziehen. Den ungeheuren Stolz auf seine Söhne begründete er mir gegenüber mit den Worten: „Die haben es geschafft, ihre eigenen Herren zu sein – ich nur so halbwegs.“

Nach ihm hat der Einfluss der SPÖ die CA zuerst mit der Länderbank und der Zentralsparkasse verschmolzen, ehe sie unter Wolfgang Schüssel von der größten österreichischen zu einer italienischen Bank geworden ist.
Treichl sah das zu Recht als Zerstörung seines Lebenswerkes an. Denn er war ein glühender Österreicher.

Wahrscheinlich, weil er erlebt hatte, wie schwer der ­Widerstand gegen die Verpolitisierung der Wirtschaft ist, war er diesbezüglich so streitbar. Wie Friedrich August Hayek sah er in Sozialisten „Kollektivisten“, die bereit sind, den „Weg zur Knechtschaft“ zu beschreiten, indem sie sich vom Staat umarmen lassen. Er konnte Stunden von Hayeks Hauptwerk schwärmen. Allerdings musste der Liberalismus, für den er schwärmte, der strengen Ethik genügen, die sein Vater vorgelebt hatte: Man hatte Verluste aus der eigenen Tasche zu tragen – denn das machte den Unterschied aus.
Außerdem hatte die liberale Wirtschaftsordnung Erfolg zu garantieren. Als ich ihm erzählte, dass junge Leute immer schwerer einen Job fänden, reagierte der damals fast 100-Jährige mit der Radikalität eines 20-Jährigen: „Wenn der Kapitalismus zu wenig Arbeit gibt, versagt er.“

Meiner Überlegung, dem durch Arbeitszeitverkürzung entgegenzuwirken, folgte er interessiert, um sie dann zu verwerfen: „Der Staat hat da nicht einzugreifen.“ Dass ich eben dies für unverzichtbar hielt, ließ ihn mich lachend einen „Kommunisten“ nennen. Ich fürchte, er meinte es ernst.

Unserer Freundschaft tat das keinen Abbruch, denn sie gründete auf Wichtigerem: der gemeinsamen Liebe zu den Gedichten Rilkes, die wir auch an seinem 100. Geburtstag gemeinsam rezitierten – er ungleich präziser als ich.

Denn das Schicksal hatte ihn auch durch eine überragende Physis begünstigt. Noch mit 90 bückte er sich rascher nach dem Schal meiner Frau als ich mit 64, und ähnlich gelenkig war sein Gedächtnis: Er konnte sich nicht nur an die erste Buhlschaft des ersten Salzburger „Jedermann“ erinnern, sondern auch an die Hübscheste, die ihr folgte.

Dass er die Schönheit in allen ihren Gestalten – sei es als Gedicht, als Rose oder Frau – so sehr zu genießen vermochte, war ohne Zweifel das Geheimnis seines langen Lebens. Auch er selbst war schön bis ins hohe Alter – und während schöne junge Menschen Zufälle der Natur sind, sind schöne alte Menschen Kunstwerke.

In Heinrich Treichl hat Österreich ein Universal-Kunstwerk verloren.

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