Peter Michael Lingens: Adieu, alte Wirtschaftsordnung

Peter Michael Lingens: Adieu, alte Wirtschaftsordnung

Drucken

Schriftgröße

Österreichs Arbeitslosigkeit ist so hoch wie 1954 und wird nach Ansicht von Ökonomen noch drei weitere Jahre steigen. Ich bewundere die Sicherheit, mit der sie diese Entwicklung 2018 enden sehen. Manche Ursachen des Problems sind zweifellos zeitgebunden: Der Sparpakt hat das Wirtschaftswachstum der EU allenthalben geschrumpft. Die viel zu späte Steuerreform hat die Inlandsnachfrage verringert. Und der rot-schwarze Reformstau behindert unternehmerische Initiativen. Doch andererseits erfährt „Produktion“ derzeit gewaltige Unterstützung: Öl ist so billig wie lange nicht. Die EZB pumpt Milliarden ins Wirtschaftsgeschehen. Der verbilligte Euro erleichtert Exporte. Dennoch wächst die Wirtschaft nur in Deutschland wie vor der Krise, weil überlegene deutsche Technik im Verein mit Löhnen, die auch nach der opulenteren jüngsten Lohnrunde längst nicht der hohen Produktivität entsprechen, unserem Nachbarland einen singulären Exportvorsprung verschaffen.

Der Rest der EU kämpft mit „Deflation“. Mit OECD, IWF und EZB halte ich sie, wenn sie anhält, für das zentrale Problem der Gegenwart: Denn das flaue Wirtschaftsgeschehen, das sich im Sinken der Preise fast aller industriell gefertigten Güter manifestiert, bedingt in allen alten Industrieländern mit Ausnahme Deutschlands steigende Arbeitslosigkeit. Industrieunternehmen, die ihren Absatz kaum ausweiten können, müssen versuchen, ihre Waren an die Kundschaft zu bringen, indem sie einander nach Kräften unterbieten – das lässt die Preise sinken.

Um dennoch gute Gewinne zu erzielen, müssen sie ihr Geld statt in die Ausweitung eigener Kapazitäten in Unternehmenszukäufe, in Fusionen und vor allem in Rationalisierung investieren – das kostet Arbeitsplätze.

In einer Studie über die Zukunft der Wirtschaft, die John M. Keynes nach dem Zweiten Weltkrieg für die britische Regierung erstellte, entwarf er folgendes Bild: Zuerst würde die Wirtschaft wegen des kriegsbedingten Nachholbedarfs massiv wachsen und von selbstverständlicher Vollbeschäftigung begleitet sein. Wenn das erreicht ist, würde eine Periode folgen, in der es gelingen würde, Schwankungen der Beschäftigung durch geldpolitische Maßnahmen auszugleichen: Durch Absenken der Zinsen und vermehrte staatliche Investitionen würde es immer wieder gelingen, nachlassendes Wachstum neu zu befeuern und dadurch ausreichende Beschäftigung zu erhalten. Irgendwann allerdings würde die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft im Verhältnis zu den Bedürfnissen der Bevölkerung so groß sein, dass sich kein „Wachstum“ mehr generieren ließe. Dann, so behauptete er, würde Vollbeschäftigung nur mehr möglich sein, indem man die menschliche Arbeitszeit verringert.

Keynes hatte damit nach Ansicht der herrschenden Volkswirtschaftslehre so unrecht wie mein verstorbener Kollege Franz G. Hanke, den die Branche zum „Narren“ erklärte, weil er Arbeitszeitverkürzung predigte; oder wie ich, der das – nicht ganz so manisch – ebenfalls vertrat. Der von mir so verehrte Professor Erich Streissler ist ebenso überzeugt, dass uns die Arbeit nie ausgeht, wie mein Kollege Christian Ortner, der „mehr arbeiten“ zur Überwindung der Krise nahelegt. „Zu glauben, dass Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze schafft, ist einfach dumm“, urteilte Professor Bernd Marin im TV über unseresgleichen.

Ich riskiere dennoch die Behauptung, dass wir in den entwickelten Industriestaaten der „Phase Drei“ von Keynes sehr nahe sind: Wir können Wachstum und damit Vollbeschäftigung nur mehr mit äußerster Mühe aufrechterhalten, indem wir den Konsumenten unter immer größerem Werbeaufwand einreden, dass sie immer mehr Dinge besitzen müssen, die sie immer weniger brauchen; und indem wir Waren, die so haltbar sein könnten, dass sie ein Jahrzehnt beste Dienste leisteten, so herstellen, dass sie nach Ablauf der Garantiezeit den Geist aufgeben.

Dass in Japan seit Jahren selbst hohe Staatsausgaben nicht imstande sind, Wachstum zu generieren, dass es nach der Finanzkrise so schwer fällt, die EU auf den Wachstums­pfad zurückzuführen, obwohl in Osteuropa noch Nachholbedarf besteht, dass das in den USA angeblich herrschende Wachstum in seiner Qualität so umstritten ist, sind in meinen Augen durchwegs Indizien für Keynes’ „Phase Drei“: Die Wirtschaft ist dank überlegener Technologie imstande, die Bedürfnisse der Bevölkerung auch ohne Wachstum zu befriedigen. Wären die Einkommen nicht so ungleich verteilt, wäre dieser Prozess längst noch weiter fortgeschritten.

Eine Zeit lang kann man die Vollbeschäftigung daher noch retten, indem man die Einkommen massiv umverteilt: indem man jene Unterschicht finanziell stärkt, die noch kräftig konsumierte, wenn sie das Geld dazu hätte. Und indem man dem Staat die nötigen Mittel in die Hand gibt, große gemeinnützige Vorhaben – etwa den Übergang zu klimaschonender Produktion – zu verwirklichen. Danach muss uns etwas Neues einfallen – und wir werden dabei kaum um eine Neuverteilung der Arbeit innerhalb der Zeit sowie der Einkommen innerhalb der Wertschöpfung herumkommen.