Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Das Filmwunder

Das Filmwunder

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Claudia Schmied ist gut beraten, wenn sie sich anlässlich der Oscar-Verleihung in Los Angeles aufhält: Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Michael Hanekes „Amour“ sich gegen Steven Spielbergs „Lincoln“ durchsetzt – aber es ist immerhin möglich und wäre die größte Auszeichnung künstlerischen Schaffens aus Österreich seit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Elfriede Jelinek.

Wenn in allen heimischen Berichten darauf hingewiesen wurde, dass schon die Nominierung in fünf Kategorien die „Weltgeltung des österreichischen Films“ belege, so haben Hollywoods internationale Filmjournalisten diese patriotische Sicht eindrucksvoll bestätigt: In der Vorwoche zeichneten sie „Amour“ mit einem Golden Globe aus und kürten Christoph Waltz zum besten Nebendarsteller.

Kaum ein Jahr ohne rotweißroten Erfolg: 2008 zeichnete die Oscar-Jury Stefan Ruzowitzkys „Die Fälscher“ als besten ausländischen Film aus, 2009 wurde Götz Spielmanns „Revanche“ für die gleiche Auszeichnung nominiert. 2010 kürte sie Waltz zum besten Nebendarsteller und Hanekes „Weißes Band“ erhielt den Golden Globe für den besten ausländischen Film.
Für mich persönlich zählt „Das weiße Band“ (weit vor „Amour“) zu den besten Filmen, die ich je gesehen habe: Zum grandiosen Drehbuch und der perfekten Führung der jugendlichen Darsteller kam eine Bildsprache, die einen den Film wie ein Gemälde betrachten ließ.

Dennoch glaube ich, dass Ulrich Seidl seit seinem Film „Hundstage“ mit „Paradies: Liebe“ das noch wichtigere Kapitel der Filmgeschichte schreibt: Allem, was der Film schon bisher konnte, hat er die poetische Dokumentation der sozialen und sexuellen Wirklichkeit hinzugefügt. Ich glaube, dass man dereinst von einem „Österreichischen Realismus“ wie von der „Nouvelle Vague“ sprechen wird. Denn Seidl ist kein Einzeltäter: Auch Götz Spielmann dokumentiert in „Revanche“ soziale und sexuelle Wirklichkeit mit einem Sprachlosen in der Hauptrolle. Ich halte Letzteres für eine ganz besondere Leistung des österreichischen Films: In ihm kommen die Sprachlosen zu Wort und vermitteln eine zeit- und gesellschaftskritische Analyse der Gegenwart, wie Haneke sie im „Weißen Band“ von der protestantischen deutschen Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts vermittelt.

Österreichs Film hat tatsächlich Weltgeltung.

Dass Österreich im Skisport Weltgeltung hat, lässt sich begründen: Bezogen auf Größe und Bevölkerung hat es nach der Schweiz die meisten schneebedeckten Berge, und vor ihr die größere Sportartikelindustrie. Dazu eine Bevölkerung, die dem Fernsehen mit Skirennen Quotenrenner beschert.

Österreichs Film hat nichts von alledem: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte die absolute Leere: Fred Zinnemann und vor allem Billy Wilder verhalfen dem US-Film zum Höhenflug. Bei uns entstanden neben Heimatfilmen zwar gleichfalls Lustspiele, nur dass ihnen Gunther Philipp den Stempel aufdrückte. Filmförderung gab es nicht – Österreich erhielt sie erst ab 1980 als letztes Land Westeuropas.

Im Schnitt erhalten österreichische Filme die Hälfte dessen, was deutsche Filme und ein Drittel dessen, was französische Filme an Subvention erhalten. Und haben den ­europaweit geringsten Rückhalt beim heimischen Publikum: Es besucht sie nur zu drei Prozent. Selbst einen Krimi wie Wolfgang Murnbergers grandiosen „Knochenmann“ sahen nur 280.000 Zuschauer.

Einen „Sieg trotz Verzweiflung“ nennt der Filmemacher Franz Novotny deshalb den Höhenflug des österreichischen Films.
Für mich begann er 1993 mit Paul Harathers „Indien“, in dem der sprachlose Josef Hader den Weg andeutet, den ­Ulrich Seidls Darsteller in den „Hundstagen“ so erfolgreich weitergehen. 2005 schafft Hanekes „Caché“ die entscheidende Zäsur: Das Ausland entdeckt den österreichischen Film. (Nachdem „Indien“ und „Hundstage“ unter deutschen Cineasten schon länger als „Geheimtipp“ galten.)
Von nun an kann Haneke mit internationalem Geld rechnen und Seidl sich auf die nationale Filmförderung verlassen. Sie sei, so sagt er, für seinen Erfolg „ausschlaggebend“ gewesen.

Heuer hat Claudia Schmied sie um 3,5 auf 20 Millionen Euro erhöht, und zusammen mit der Förderung aus anderen Töpfen (Land Wien, Rundfunkgebühren, ORF, Bundeskanzleramt und Wirtschaftsministerium) wird der österreichische Film mit rund 50 Millionen subventioniert – ­etwas weniger als die Staatsoper aus dem Topf der Bundestheater erhält.
Das ist noch immer ein krasses Missverhältnis: Der Film ist heute, weit vor Theater oder Oper, das wichtigste künstlerische Medium. Statt winziger Eliten erreicht und berührt die Filmkunst ein Millionenpublikum. Sie kann alles: Dramen und Komödien erzählen, Bilder einprägen, Konflikte analysieren, Unfassbares fassbar machen und überwinden. Niemand vermochte den Holocaust besser zu beschreiben als Steven Spielberg in „Schindlers Liste“ und niemand die Vergangenheit besser zu bewältigen als Roberto Benigni in „Das Leben ist schön“.

Film ist die Kunst unserer Zeit. Dem muss Kulturpolitik Rechnung tragen.

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