Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Das Recht zu kotzen

Das Recht zu kotzen

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Vor 25 Jahren habe ich angesichts des Umgangs von ÖVP und SPÖ mit der „Pflichterfüllung“ Kurt Waldheims ­einen Kommentar mit obigem Titel geschrieben und das folgendermaßen begründet: „Dann und wann muss es auch einem Chefredakteur gestattet sein, aus dem Bauch statt aus dem Kopf zu schreiben. In jedem ordentlichen Bahnhofsrestaurant darf man kotzen, vorausgesetzt, man entrichtet 200 Schilling Reinigungsgebühr. Auch ich muss – ein-, zweimal in zehn Jahren – ins Blatt kotzen dürfen. Ich weiß, man soll die Parteien nicht abwerten, denn sie sind die wichtigsten Träger unserer Demokratie. Und man soll die Politik nicht abwerten, denn die Politikmüdigkeit ist sowieso schon gefährlich genug. Aber ist das Politik?“

Die Zeitung „Österreich“ macht Andreas Treichl in einem Kommentar den Vorwurf, seine Politik-Beschimpfung triebe die Wähler ins Lager H. C. Straches. Aber ist das, was VP, SP und EU nun schon seit Jahren vorführen, Politik? Beziehungsweise: Ist es nicht eher ihr Unvermögen, nicht dessen Kommentierung, das die Wähler in die Arme der Rechten treibt?

Mein Zorn hat sich am Umgang mit der „Vergangenheit“ entzündet – Treichls Zorn entzündete sich am Umgang mit der Gegenwart. Anlass waren bekanntlich die Bedingungen, die Banken bei der Vergabe von Krediten auferlegt worden sind: Es ist ungleich leichter, zu undurchsichtigen Sphären zu spekulieren, als soliden Unternehmen Gelder zu kreditieren.
Das ist kein Rand-, sondern ein Kernproblem der Ökonomie: Die mit Abstand wichtigste Aufgabe von Geldinstituten ist es, jene Realwirtschaft mit Kapital zu versorgen, die Arbeitsplätze und Wohlstand schafft – dass Geld stattdessen in immer größerem Ausmaß in virtuelle Werte fließt, hat uns die Weltwirtschaftskrise beschert.

Man hat von einem neuen Banken-Regelwerk wie Basel III erwarten dürfen, dass es dieses Problem mindert, statt es zu verschärfen.
Andreas Treichl, der eine der Realwirtschaft verpflichtete Bank führt, sollte – ein-, zweimal in zehn Jahren – gestattet sein, ob dieser Fehlleistung zu kotzen.

Er hat sich auch allgemein über das mangelnde Wirtschaftsverständnis österreichischer Politiker beklagt. Ich möchte dieses Unverständnis an zwei exemplarischen Beispielen illustrieren: Fast schon einem Volksschüler kann man erklären, dass die Finanzierung künftiger Pensionen angesichts einer steigenden Zahl von Pensionisten mit steigender Lebenserwartung durch den Produktivitätszuwachs von vielleicht zwei Prozent nicht zu sichern ist. Dennoch wird das von sämtlichen roten Sozialministern behauptet. Man kann sich aussuchen, ob sie es nicht verstehen oder zu feig sind, es einzugestehen.

Und bereits einem Hauptschüler kann man erklären, dass es die Dynamik einer Wirtschaft ungleich weniger ­belastet, wenn ruhende Vermögen – etwa Grundstücke – etwas höher besteuert werden, als wenn Arbeitseinkommen besonders hoch besteuert wird. Dennoch widersprechen dem sämtliche schwarzen Finanzminister beharrlich, und im vorigen profil konnte man nachlesen, dass es auch ­Michael Spindelegger unmöglich beizubringen ist. Es übersteigt offenbar das Verständnis der Wirtschaftspartei ÖVP.
Ihr Mitglied Treichl hat sich auch diesbezüglich nie ein Blatt vor den Mund genommen: Selbstverständlich seien die Vermögensteuern im Verhältnis zu den Einkommensteuern zu erhöhen – die Stiftungssteuern ganz besonders.
Er hatte nur das Glück, dass das nicht so viele Leute ­hörten, sonst wären ihm schon damals diverse Wirtschaftsfunktionäre an den Hals gefahren. Denn auch bei denen hapert es manchmal beträchtlich an volkswirtschaftlichem Verständnis.

Ich will nicht behaupten, dass alle Genannten zu „blöd“ sind, derart Elementares zu verstehen, wohl aber, dass es zu blöd ist, dass sie das Denken offenbar ihren politischen Vorgaben opfern.

Restlos zum Kotzen wird es, wenn man bedenkt, was der aktuelle Föderalismus die Wirtschaft kostet: Beginnend mit neun Bauordnungen und Wohnbauförderungen auf 84.000 Quadratkilometern und endend mit Rücken an ­Rücken errichteten Schwerpunktspitälern. Und das seit Jahrzehnten politisch unverrückbar.

Nicht minder muss man sich die Haare raufen, wenn man mit ansieht, wie unendlich langsam die Bildungs­politik auf so offensichtliche Bildungsschwächen reagiert, wie ­PISA-Test auf PISA-Test sie offenbart.
Die schwarz-rote Politik hat wirklich Beträchtliches ­unternommen, den Zustrom zur FPÖ durch Inkompetenz zu steigern, denn auch an der ungenügenden Integration von Ausländern ist sie schließlich nicht unbeteiligt.

In meinen Augen wäre es ein Segen, wenn wütende Bürger ihre Stimme in Zukunft einer in Wirtschaftsfragen kompetenten Partei an Stelle der FPÖ gäben. Andreas Treichl wäre für diese neue Partei in Wahrheit die ideale Galionsfigur. Denn anders als den meisten bisher in diesem Zusammenhang genannten Herren kann man ihm soziales ­Gewissen nicht absprechen.

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