Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Der Narr, der Recht hatte

Der Narr, der Recht hatte

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In einem sind sich die Ökonomen derzeit einig: Das größte Problem der kommenden Jahre ist die weltweit steigende Arbeitslosigkeit. Als Ursache wird je nach Weltanschauung eher die „sozialistische Schuldenwirtschaft“ oder eher „das Wüten der Finanzmärkte“ vermutet. Umso erstaunter bin ich zur Jahreswende in einem Artikel der „Presse“ auf eine doch ziemlich andere These gestoßen: „Erstmals in der Geschichte vernichtet der technologische Fortschritt mehr Jobs, als er schafft“, heißt es im Vorspann. Dann wird auf einer vollen Seite zustimmend ein E-Buch1) der Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) referiert, das zu dem Schluss kommt: „Der Mensch verliert das Rennen gegen die Maschinen.“

Vor dreißig Jahren wurde mein Kollege Franz G. Hanke, von derselben „Presse“ (und so gut wie allen Kollegen und „Experten“) ein Narr genannt, weil er in profil vor ebendieser Entwicklung warnte. Und bis heute behauptet etwa der von mir so verehrte Wiener Ökonom Erich Streissler, dass den Menschen die Arbeit nie ausgehen würde, weil die Hälfte aller Jobs mittlerweile in Dienstleistungen bestünde, die sich kaum automatisieren ließen.

Ich habe dem in meinen „Ansichten eines Außenseiters“) entgegengehalten, dass die Wiener Gemeindespitäler heute dank Automatisierung eine der intensivsten Dienstleistungen, Krankenbetreuung, für 350.000 Patienten mit derselben Zahl von Mitarbeitern erbringen, mit der sie 1989 nur 260.000 ­Patienten versorgten.

Die beiden MIT-Autoren sehen das aufgrund eingehender Studien ähnlich: Selbst bei klassischen Dienstleistungen – Übersetzung, Buchhaltung, Rechtsberatung – würden immer mehr Arbeitsschritte durch Computer erbracht. Ein Toyota Prius, der sich 2010 Tausende Kilometer computergesteuert durch den dichtesten US-Verkehr bewegte, hatte nur einmal einen Unfall: als ein menschlicher Autolenker ihm ins Heck krachte, weil er korrekt an einer roten Ampel anhielt. Am eindrucksvollsten ist indessen der Hinweis auf jüngste Wirtschaftsdaten: Seit Sommer 2011 ist die US-Industrieproduktion wieder deutlich größer als vor der Finanzkrise – aber mit sieben Millionen Arbeitskräften weniger.

Die Krise, so erklären die beiden Autoren, habe die Unternehmen veranlasst, technologisch aufzurüsten, der Absatz industrieller Roboter sei um 41 Prozent gestiegen, der Verlust von Jobs die logische Konsequenz. Ich behaupte das seit Langem: Die bisher so viel höhere Beschäftigungsrate der USA beruht auf ihrer technologischen Rückständigkeit in allen traditionellen Industrien.

Im technologisch fortschrittlichsten Land der Welt – Deutschland – ist die Arbeitslosigkeit nur deshalb erstaunlich gering, weil es die kürzesten Arbeitszeiten aller ent­wickelten Industrieländer aufweist und seine Überpro­duktion dank ihrer überragenden Qualität in wachsende Absatzmärkte zu exportieren vermag. Das aber ist eine einzigartige Sonderstellung – in Summe verläuft die Entwicklung umgekehrt: Immer mehr Dritte-Welt-Länder drängen mit guten Produkten auf die Märkte der Alten Welt. Das muss bei gleichbleibenden Arbeitszeiten zu immer mehr Arbeitslosen führen.

Die Industriestaaten begegnen dieser Entwicklung seit etwa zwei Jahrzehnten mit mäßigem Erfolg, indem sie die Nachfrage künstlich erhöhen: Sie vergeben Staatsaufträge (in den USA vor allem für Rüstung) oder stimulieren den Konsum durch billiges Geld. Das hat – nicht nur seitens der Sozialisten – die aktuellen Schuldenberge geschaffen. Ihr nunmehriger Abbau bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit offen zutage tritt.

Hanke hat die aktuelle Weltwirtschaftskrise aufgrund dieses Auseinanderklaffens von Konsum und Produktivität daher vor 30 Jahren für zwischen 2000 und 2010 vorhergesagt. Vom Termin her, weil dann der Scheitelpunkt einer Welle nach Kondratiev erreicht sei. (Der Ökonom Nikolai Kondratiev hatte postuliert, dass Konjunkturen jeweils so lange dauerten, bis bahnbrechende neue Erfindungen – die Eisenbahn, das Auto usw. – allgemeine Verbreitung gefunden haben.) Von der Mechanik her, weil der zurückbleibende Konsum zur Akkumulation von immer mehr Sparkapital führe, das mangels realwirtschaftlicher Alternativen in Aktien strömen und dort riesige Blasen bilden würde.

2007 lag er damit Jahrzehnte nach seinem Tod ganz gut. Im Detail irrte er zwar gewaltig. Er meinte, dass dieses Sparkapital sich in den USA ansammeln würde, während dort die Schulden kumulierten – aber die Kapitalüberschüsse entstanden stattdessen in China, wo die Bevölkerung längst nicht ausreichend an den Exporterlösen beteiligt wurde, in Japan, wo sie aufhörte einzukaufen, und bei Fonds, die die Überschüsse der Ölländer und das Sparkapital reicher Bürger der EU, Japans oder der USA abschöpften, während die Reallöhne der Bevölkerung stagnierten oder gar sanken. Seine zentrale Annahme, dass eine unglaublich gesteigerte Produktivität bei gleichzeitig relativem Zurückbleiben der Nachfrage eine Blase herbeiführen würde und dass deren Platzen Arbeitslosigkeit auslösen müsse, traf leider punktgenau zu.

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