Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Der Sozial-Guerillero

Der Sozial-Guerillero

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Ich habe mich im Urlaub auf eine Region konzentriert, die Touristen sonst eher meiden: die Favelas von Bogotá. Statt der Empfehlung eines Reisebüros bin ich damit der Anregung eines Außenseiters gefolgt: Helmut von Loebell ist 1956 achtzehnjährig von Berlin nach Kolumbien ausgewandert, hat es dort zu einigem Wohlstand gebracht, sein Geld aber sofort wieder in diverse Sozialprojekte gesteckt – zuletzt ein Betreuungszentrum in Bogotás Favelas. Dabei hat er seine österreichische Frau kennen gelernt: Maria Herberstein arbeitete als Sozialhelferin im Kindergefängnis von Bogotá. (Es könnte in der Familie liegen: Ihre Schwester Cecily betreibt in Wien ein Flüchtlingsheim – Adel wird gelegentlich auch als Verpflichtung empfunden.) Durch seine Ehe pendelt Loebell zwischen Bogotá und Salzburg, und dort habe ich ihn bei einer Tagung kennen gelernt, über die ich hier berichtet habe: Waldorfschulen werden kaum subventioniert, obwohl sie ihre Schüler wesentlich billiger als öffentliche Schulen ausbilden und dem Staat damit Arbeit abnehmen. „So geht mir das in Kolumbien auch“, meinte Loebell – das wollte ich mir ansehen.

Bogotá ist jede Reise wert. Kolumbiens Hauptstadt liegt auf 2700 Meter Höhe und wird von prachtvollen Bergen umrahmt. 1939 hatte sie 350.000 Einwohner, die in einem zauberhaften „spanischen“ Städtchen lebten, das heute das Zentrum der Acht-Millionen-Stadt bildet. Allein in den letzten zehn Jahren sind drei Millionen Menschen zugewandert und füllen Elendsviertel an allen Bergrücken. Wie überall glaubt die Landbevölkerung, dass die Stadt ein leichteres ­Leben böte – aber in Kolumbien haben die Überfälle der FARC diese Wanderung zur Flucht gesteigert.

Ihre linken Anführer hatten zu Recht eine Landreform gefordert, denn Kolumbiens Landwirtschaft wird von ­„Hacienderos“ dominiert, denen riesige Güter trotz dürftigster Bodennutzung riesige Einkommen sichern. (Obwohl es unendlich fruchtbar und viermal so groß wie Deutschland ist, muss Kolumbien daher Agrarprodukte importieren.)

Aber statt auf Wahlen hat die FARC auf Guerillakampf gesetzt und dabei den Kürzeren gezogen: Das größte Heer Südamerikas hat sie im Verein mit paramilitärischen Verbänden der Hacienderos an die Grenze zu Venezuela zurückgedrängt. Mittlerweile sind FARC wie „Paras“ zu mit Drogen handelnden Terrorbanden verkommen, während die vor ihren Kämpfen geflohenen „Campesinos“ die Städte überfüllen (siehe auch profil 31/2010).

Gegen dies alles kämpft, mit seinen lächerlichen Mitteln, der Kaufmann Helmut von Loebell. In Guayabal, vier Autostunden von Bogotá, hat er ein SOS-Kinderdorf und eine Landwirtschaftsschule für Söhne von „Campesinos“ ins Leben gerufen: Mit neuem Wissen und Selbstbewusstsein ausgestattet, sollen sie in befriedete Teile des Landes ­heimkehren.
Jetzt dürfte diese Vision enden: SOS-Kinderdorf will das Projekt nicht weiterfinanzieren, weil es nicht zu seinen Agenden passt und zirka 100.000 Euro im Jahr kostet.

Ich habe mir die Schule angeschaut: Sie ist großartig, und es wird unendlich schade um sie sein. Loebell betreibt inzwischen „nur mehr“ sein „CES Waldorf“ in den Favelas von Bogotá: einen Waldorf-Kindergarten samt Betreuung Jugendlicher bis siebzehn und ihrer Familien – zusammen rund fünfhundert Leute.

„Favelas“ bedeuten im besten Fall aneinandergebaute, zweigeschoßige Ziegelstein-Schachteln mit Wellblechdach im Format 12 x 3 x 5 für sechs bis zwölf Menschen, für die Bogotá den Boden billig bereitstellt, sodass es auch Strom und Wasser gibt. Im ungünstigen Fall sind „Favelas“ an den Hang geklebte Ziegel- oder Holzverschläge mit Lehmfußböden, die den Strom stehlen. Rund ums CES Waldorf gibt es beides.

Die Kinder sind zauberhaft wie überall, nur dass sie ihre Ärmchen schon nach wenigen Minuten um die Beine jedes Fremden schließen, denn es fehlt an Vätern. Viele haben ihre Familien einfach verlassen, manche sind eingesperrt, weit weg auf Baustellen oder beim Militär. Zwei ­„Väter“ eines der betreuten Mädchen wurden ermordet.

Im CES Waldorf untersucht man diese Kinder auf Läuse und Unterernährung, gibt ihnen zu essen und umarmt sie so oft wie möglich: Sie sollen trotz allem an eine bessere ­Zukunft glauben.

Um die Eltern kümmern sich zwei Sozialarbeiter, die das größte Problem freilich nicht lösen können: Eine „Anstellung“ – mindestens sechs Monate – haben die wenigsten. Die Unternehmen beschäftigen vornehmlich „informell“ wochen- oder monatsweise – manchmal ohne am Ende zu zahlen. Die vielen, die keine Arbeit haben, „recyclen“: Sie stieren im Müll nach verkaufbarem Metall.

Dazwischen gibt es kleine Drogenhändler und „Paras“, die selber handeln oder vermeintliche Händler wüst bekämpfen. Gegen zwei der CES-betreuten Jugendlichen haben sie Todesdrohungen ausgestoßen, als diese sich ihnen nicht ­anschließen wollten, und Loebell musste sie bei sich ver­stecken.

Ich habe mir das alles angeschaut, und ein Kollege hat in der „Wienerin“ eine berührende Reportage darüber geschrieben: Es funktioniert seit gut zwanzig Jahren. Bis jetzt. Denn die Krise hat Loebells Einkommen re­duziert, und er kann die rund 100.000 Euro im Jahr nicht mehr zuschießen.

Falls jemand – vielleicht ein Unternehmer oder Bankier (von mir aus auch ein Lobbyist) – mehr Geld hat, als er braucht, soll er sich bei mir melden. Ich leite es an Loebell weiter. Vielleicht verpflichtet auch Reichtum.

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