Peter Michael Lingens
Peter Michael Lingens: Deutschlands Lohn-Dumping

Peter Michael Lingens: Deutschlands Lohn-Dumping

Die ökonomische Ursache der Eurokrise ist eine entscheidende Dimension der Flüchtlingskrise.

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Die Emotionen, die die Verschränkung der Flüchtlingskrise mit Islam und Islamismus ausgelöst hat, verdecken, in welchem Ausmaß sie mit der wirtschaftlichen Entwicklung Europas verschränkt ist: Die Konkurrenz, die Flüchtlinge angesichts der wirtschaftlichen Stagnation der EU auf dem Arbeitsmarkt darstellen, ist zweifellos ein wichtiger Grund für ihre Ablehnung. Selbst in Deutschland, das als einziges EU-Land noch Arbeitskräfte sucht, haben die Menschen im Niedriglohnsegment begreifliche Angst, dass Asylanten sie verdrängen und Lohnerhöhungen verhindern.

Solange in Deutschland und Österreich auch die Unterschicht an wirtschaftlichen Aufstieg glaubte, stand zumindest die Aufnahme vom Tod Bedrohter außer Streit und forderten nur NPD und FPÖ „Zuwanderungsstopp!“. Jetzt fordert ihn in Deutschland eine AfD, die aus dem Stand zweistellige Wahlerfolge erzielt.

Ich habe es zwei Mal lesen müssen, um an so viel Unsinn aus dem Mund eines Finanzministers zu glauben

Schuld an ihrem Aufstieg sei die „Finanzpolitik“, hat der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble kürzlich erklärt und hat damit wahrhaft Recht – nur dass er nicht Deutschlands Finanzpolitik, sondern die lockere Geldpolitik der EZB meinte. Ich habe es zwei Mal lesen müssen, um an so viel Unsinn aus dem Mund eines Finanzministers zu glauben.

Ich habe hier schon so oft erläutert, warum ich Schäubles Sparpolitik für das aktuelle Unheil der EU halte, dass ich mich einmal mehr auf einen Satz beschränke: Die Wirtschaft muss darunter leiden, dass angesichts der schwachen Nachfrage von Konsumenten, die zu wenig verdienen, und von Unternehmen, die deshalb nur wenig investieren, auch noch der Staat bei seinen Ausgaben und Investitionen spart. (Was im Verhältnis zum BIP übrigens nie gelingt, weil es stets stärker zurückbleibt als die Staatsschulden sinken.)

Vielmehr will ich diesmal auf den zentralen Fehler der deutschen Wirtschaftspolitik hinweisen. Sie betreibt seit Gerhard Schröder Lohn-Dumping: Indem sie durch 20 Jahre „Lohnzurückhaltung“ zelebriert hat, obwohl sie die ­produktivste Volkswirtschaft der Welt ist, exportiert sie Arbeitslosigkeit. Ihre Produkte müssen, da sie nicht nur auf den leistungsfähigsten Maschinen, sondern auch noch zu niedrigen Löhnen hergestellt werden, preiswerter als alles Vergleichbare sein.

Es herrscht dort die ständige Sorge, dass die Löhne zu stark steigen und damit die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands vermindern könnten

Innerhalb Deutschlands ließ sich ihr Absatz nur höchst ungenügend steigern, weil die Kaufkraft dank „Lohnzurückhaltung“ nur höchst ungenügend stieg. Wohl aber in diversen umgebenden Ländern, wo die Löhne mit der Produktivität (oder gar, wie im Süden, darüber hinaus) gestiegen sind. In etwa so viel, wie Deutschland in diesen Ländern mehr verkauft, können die Unternehmen dieser Länder zu Hause, in Deutschland und im Rest der EU weniger verkaufen. Das geht zwangsläufig zu Lasten der Arbeitsplätze, die sie bereitstellen.

Kennzeichen dieser Politik ist Deutschlands permanenter Leistungsbilanz-Überschuss, der 2015 die Rekordhöhe von 257 Milliarden Euro erreicht hat.

Wenn man Arbeiten angloamerikanischer Ökonomen liest, ist das ein eklatantes, auch von der bürgerlichen Nationalökonomie abgelehntes ökonomisches Fehlverhalten – wenn man deutschen Ökonomen zuhört oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ liest, ist es eine deutsche Tugend.

Es herrscht dort die ständige Sorge, dass die Löhne zu stark steigen und damit die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands vermindern könnten – nie die Sorge, dass Konkurrenz auf der Basis von Lohndumping unfair sein und die Nachfrage beeinträchtigen könnte. Dabei funktioniert Dumping dank niedriger Löhne nicht anders als Dumping dank niedriger Umweltauflagen – da finden es auch die Deutschen unfair.

Deutschlands moderne Maschinen, nicht seine niedrigen Löhne, sind sein Erfolgsgeheimnis

Dass Deutschland im Vorjahr einen Mindestlohn von 8,50 Euro einführte, wurde wochenlang diskutiert, und diverse Star-Ökonomen rechneten vor, wie viele Stellen es kosten würde. (Tatsächlich hat es nicht eine gekostet.) In den USA fordert Bernie Sanders einen Mindestlohn von 15 Dollar (13,15 Euro). In Großbritannien will ihn die konservative Regierung von derzeit umgerechnet 8,95 Euro nächstes Jahr immerhin auf 9,02 Euro und bis 2020 auf 11,31 Euro anheben. Aber für Deutschland ist das offenbar „linkslinks“.

Obwohl es die Lohnstückkosten nur marginal erhöhte. Denn ob die Stunde Arbeit bei der Herstellung von 500 Einheiten auf einer älteren Maschine zehn Euro statt 8,50 Euro kostet, macht pro Einheit einen Bruchteil dessen aus, was eine neuere Maschine mit einer Leistung von 1000 Einheiten pro Stunde ermöglicht. Deutschlands moderne Maschinen, nicht seine niedrigen Löhne, sind sein Erfolgsgeheimnis.

Die sind nur das Fiasko aller seiner Konkurrenten. Und auf einem Umweg doch wieder ein Nachteil für Deutschland: Wenn alle benachbarten Volkswirtschaften unter dem deutschen Leistungsbilanz-Überschuss leiden – es muss ihm aus Gründen der Mathematik bei ihnen zunehmende Verschuldung gegenüberstehen –, dann muss das zu groben Verwerfungen führen. Diese Verwerfungen waren Bestandteil der bisherigen Eurokrise und werden Bestandteil der nächsten Eurokrise sein.

PS: Ein eigenes Kapitel ist die Problematik des Mindestlohns für die Integration von Flüchtlingen – hier sind intelligente Sonderlösungen notwendig.