Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Die zahnlose Gewerkschaft

Die zahnlose Gewerkschaft

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Als ich den Gewerkschaften vor Kurzem an dieser Stelle vorrechnete, in welchem Ausmaß die Reallöhne der meisten Österreicher und Deutschen in den letzten zehn Jahren gefallen sind und wie sehr die Armut unter ihnen gestiegen ist, erlebte ich diametrale Reaktionen: Kritik an den Gewerkschaften, weil sie ihre wichtigste Aufgabe ­vernachlässigt hätten – und Dank an die Gewerkschaften, weil ihre wirtschaftliche Einsicht dafür verantwortlich sei, dass Österreich und Deutschland weit besser als andere Länder dastünden.

Ich kann mich der Kritik insofern nicht mit Überzeugung anschließen, als mir bewusst ist, dass die Gewerkschaften vor einer unendlich schwierigen Aufgabe stehen; aber ich sehe auch keinen Grund zur Dankbarkeit: Meines Erachtens ginge es der Wirtschaft beider Staaten noch besser, wenn Reallohnerhöhungen sehr wohl zustande gekommen wären. Der Verkauf deutscher und österreichischer Waren hätte dann nämlich nicht nur in Asien oder den USA – und auf Pump in Südeuropa – zugenommen, sondern sie hätten auch in Deutschland und Österreich mehr Käufer gefunden. Ich glaube, dass durch ein Jahrzehnt auf eine wichtige Erkenntnis des legendären Henry Ford vergessen wurde: „Ich will, dass meine Arbeiter gut verdienen, damit sie ­meine Autos kaufen können.“

Natürlich nutzte es Deutschland wie Österreich im ­Export, dass ihre Lohnstückkosten dank stagnierender Löhne besonders niedrig waren, aber sie wären auch bei etwas höheren Löhnen noch ausreichend konkurrenzfähig gewesen. Denn viel mehr als von der Höhe der Löhne hängen Lohnstückkosten von der Produktivität ab: Auch ein gut verdienender Arbeiter, der an einer Maschine 500 DVDs pro Minute produziert, produziert jede DVD zu ungleich geringeren Kosten als ein schlecht verdienender Arbeiter an einer Maschine mit einem Output von nur 30 Stück. Deutsche und österreichische Betriebe besitzen diese leistungsfähigeren Maschinen, spanische oder portugiesische nur ausnahmsweise.

Es gibt nämlich einen (von Unternehmern ungern ausgesprochenen) inneren Zusammenhang zwischen den relativ höheren Löhnen und den so viel besseren Maschinen: Weil Deutschlands und Österreichs Unternehmen die meiste Zeit gezwungen waren, trotz höherer Löhne konkurrenzfähig zu sein, haben sie so viel bessere Maschinen entwickelt. (Ihren größten technologischen Sprung vorwärts machten Österreichs Betriebe in einer Zeit, in der Hannes Androsch gleichzeitig auf der Bindung des Schilling an die D-Mark beharrte: Obwohl sie Österreichs Waren primär verteuerte, hat der folgende erzwungene Produktivitätsschub diese Verteuerung weit überkompensiert.) Niedriglohnländern fehlt dieser ständige Druck zum technologischen Fortschritt.

Warum fällt es mir dennoch schwer, die Gewerkschaften dafür zu kritisieren, dass sie Reallohnerhöhungen seit Langem fast nur mehr bei kommunalen Unternehmen oder Beamten durchsetzen, während das Lohnniveau in der Industrie zurückbleibt? Weil DGB oder ÖGB ständig mit der Drohung konfrontiert sind, dass Industrieunternehmen ihre Produktion in ein Niedriglohnland verlagern! Anfangs – ab der „Wende“ – war damit im Allgemeinen ein Land des ehemaligen Ostblocks gemeint: In Tschechien, Ungarn oder Polen war die Ausbildung der Arbeitskräfte kaum schlechter als bei uns, und neue Fabriken ließen sich dort sofort mit den leistungsfähigsten Maschinen errichten.

Die Drohung, die Produktion dorthin zu verlagern, war also wirksam.
Mittlerweile reicht sie bekanntlich weit über den ehemaligen Ostblock hinaus: Man findet auch in Asien, Indien oder Südamerika immer besser ausgebildete Arbeitskräfte. Ein deutscher (österreichischer) Dreher oder Informatiker steht nicht mehr bloß in Konkurrenz zu einem französischen oder italienischen, sondern auch zu einem malaysischen oder chinesischen Dreher oder Informatiker, der einen Bruchteil verdient.

Das lässt die Reallöhne der Dreher (Informatiker) in Deutschland oder Österreich zwangsläufig nur mehr ­begrenzt steigen. Gott sei Dank fördert es gleichzeitig die Industrialisierung Malaysias oder Chinas und hebt das Lohnniveau dort langsam an: Der malaysische Informatiker verdient nicht mehr bloß ein Zehntel seines österreichischen Pendants. Die Lohnniveaus bewegen sich – sehr langsam, aber unaufhaltsam – aufeinander zu.

Obwohl man das als Österreicher nicht so gerne hört, muss man es übernational begrüßen: Die Welt wird etwas gerechter – daher geht es uns (relativ) schlechter. Aber lange nicht schlecht. Denn trotz der nach wie vor großen Lohndifferenz wandern die Betriebe keineswegs scharenweise in Niedriglohnländer ab. Zum einen, weil der Anteil der Personalkosten an den Kosten industrieller Produktion immer geringer wird, zum anderen, weil Deutschland wie Österreich nach wie vor die bessere Infrastruktur, die höhere Rechtssicherheit und die größere politische Stabilität bieten.
Dass Österreich im Korruptionsindex absackt, gefährdet es als Wirtschaftsstandort jedenfalls mehr als Reallohn­erhöhungen, die im Rahmen der internationalen Lohnstückkosten-Entwicklung bleiben.

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