Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Die Mutter der Krisen

Die Mutter der Krisen

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Die jüngsten Zahlen lassen so wenig Zweifel wie die jüngsten Coverstorys von "Economist“ bis zu profil: Die Krise hat uns wieder. Wobei die meisten Österreicher zwei getrennte Krisen sehen: jene von 2008, die durch den Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers ausgelöst wurde und die wir angeblich einzudämmen vermochten; und die aktuelle Krise, die in ihren Augen Griechenland zum Auslöser und die Fehlkonstruktion der Eurozone zur Ursache hat. In Wirklichkeit war die Krise von 2008 nie zu Ende - sie hat sich nur unter der kurzfristigen Vorspiegelung einer Erholung endgültig zur Weltwirtschaftskrise ausgewachsen, indem sie nun von den USA über Europa bis China reicht.

Es gilt mit sechs Jahren Zeitverschiebung die prophetische Analyse des Wiener Ökonomen Erich Streissler von 2002: Die USA sind dramatisch überschuldet; das muss zu einem Absturz aus ihrer auf Pump finanzierten Scheinkonjunktur führen und sie zu größerer Sparsamkeit zwingen; wenn in der größten Volkswirtschaft der Welt gespart wird, muss das eine Weltwirtschaftskrise verursachen. Dem ist heute nichts hinzuzufügen.

Europa vermochte den ersten Ansturm der US-Krise abzufedern, indem es sein Bankensystem mit Milliardenspritzen vor dem Infarkt durch toxische US-Wertpapiere gerettet und mit weiteren Milliarden seine schockstarre Wirtschaft angekurbelt hat. Diese Hilfsaktionen haben die Staatsschulden der EU-Mitglieder um jene gewaltigen Beträge erhöht, die zur Herabstufung durch die Ratingagenturen und damit zur Eurokrise führten.

Nur sekundär treten eigene Fehler hinzu:

Auch Europas Regierungen haben mehr ausgegeben als eingenommen.

Voran Österreich ist zu viel Risiko bei der wirtschaftlichen Erschließung des ehemaligen Ostblocks eingegangen.

Und es unterblieb trotz des Wissens um die Lehman-Pleite die dringend nötige Regulierung der Geldwirtschaft.

Das hat die Schwächen in der Konstruktion der Eurozone zur akuten Gefahr für den Euro werden lassen, obwohl die USA nach wie vor kritischer als die Eurozone verschuldet sind.

Trotzdem gäbe es die aktuelle Wirtschaftskrise auch dann, wenn die Eurozone besser funktionierte: Europas Exporte müssen zurückgehen, wenn die größte Volkswirtschaft der Welt auf Jahre hinaus lahmt. Genauso wie Chinas Boom nachlassen muss, weil auch seine Exporte in die USA zurückgehen müssen.

Während wir noch davon träumen, dass China den Euro sanieren und alle unsere Exportkapazitäten auslasten wird, diskutieren die internationalen Investoren längst Chinas eigene Probleme: Unzählige Regionen und Städte des Riesenreichs haben sich im Zug gigantischer Projekte bis über die Ohren verschuldet, ohne dass die zentrale Regierung darüber noch den Überblick besäße. Es gibt eine chinesische Immobilien- und vermutlich auch Aktienblase, die jederzeit platzen kann. Ohne seine gigantischen Exporte in die USA ist China nicht mehr das Land, dessen überragendes Wirtschaftswachstum uns die große Krise erspart.

So weit der pessimistische Teil dieser Kolumne.

Nun der optimistische: Die Krise trifft die reichen USA und ein wohlhabendes altes Europa, auch wenn dieser Reichtum in den USA sehr ungleich und in Europa ungleicher als zuvor verteilt ist. Selbst bei einem deutlich verminderten Wirtschaftswachstum nimmt der allgemeine Wohlstand zu, weil längst nicht in einem Jahr kaputtgeht, was in einem Jahr neu geschaffen wird.

Ein gravierendes Problem ist die ohne Wachstum dramatisch zunehmende Arbeitslosigkeit. Nur muss die in einer sich technologisch ständig modernisierenden Welt früher oder später selbst mit Wirtschaftswachstum zunehmen.

Ich handle mir seit Jahrzehnten den Ruf eines Narren ein, weil ich behaupte, dass wir diesem Problem nur durch Verkürzung = Umverteilung der Arbeitszeit beikommen können. Die kommenden Jahre werden das belegen.

Ansonsten bin ich zuversichtlich, dass die Krise dazu führen wird, dass die Eurozone ihre Konstruktionsschwächen behebt: Es ist möglich, gemeinsam zu haften, ohne sogleich "vereinigte Staaten“ zu bilden und zur verschwenderischen Transferunion zu werden. Gute Juristen sind in der Lage, jede ökonomische Forderung in Vertragsform zu gießen.

Zumindest das Italien-Problem halte ich nach Berlusconis Abgang auch mit dem vorhandenen Instrumentarium für lösbar. Italien ist zwar mit 120 Prozent seines BIP verschuldet - aber es hat den Großteil seiner Schulden im Inland. Man könnte auch sagen: Der italienische Staat ist so arm, wie viele Italiener reich sind. Die Einführung vernünftiger Vermögensteuern (höherer Grundsteuern), die Berlusconi aus naheliegenden Motiven unterlassen hat, könnte die Staatsfinanzen deutlich verbessern, ohne der Wirtschaft zu schaden.

Diese Wirtschaft ist trotz des schwachen Südens im Norden so stark, dass Italien ein BIP von 35,9 Dollar pro Kopf erreicht (Griechenland 28, Deutschland 41 Dollar).

Ich halte für lächerlich, dass Italien pleitegehen muss, wenn IWF und EU die ihnen jetzt offiziell zugebilligten Möglichkeiten wahrnehmen. Nur an die eigene Reformierbarkeit nicht zu glauben kann Europa ernsthaft gefährden.

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