Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Gehirnamputation + Alltagskorruption

Gehirnamputation + Alltagskorruption

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In seinem Buch „Prolokratie“ stellt Christian Ortner unter anderem folgende politisch unkorrekte These auf: Ein großer Teil der Bevölkerung ist grenzdebil. Insbesondere der simple Tatbestand, dass man nicht fortgesetzt mehr ausgeben als einnehmen kann, ist ihr nicht zu vermitteln. Sie ist daher außerstande, bei Wahlen vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Ich fürchte, dass der Ausgang der italienischen Wahlen eine Menge Unterstützung für diese These liefert. Den ­Vater des Desasters, Silvio Berlusconi, neuerlich ins politische Spiel zurückzuholen und den Anarcho-Clown Beppe ­Grillo zur entscheidenden dritten Kraft zu machen erfordert ein dickes Brett vor dem Kopf. Im Wortlaut des E-Mails eines italienischen Freunds: „Ich schäme mich für so viel Idiotie. Bete für diese dumme Nation.“

Eine Erklärung liefert der Medienunternehmer Francesco Di Stefano, der seit dreizehn Jahren vergeblich versucht, dem TV-Monopol Berlusconis eine unabhängige Sendeanstalt entgegenzustellen. Durch zehn Jahre wurde ihm die Sendelizenz verweigert; als er sie endlich erhielt, besetzte ein Berlusconi-Sender widerrechtlich die zugehörige Sendefrequenz und hinderte ihn damit am Ausstrahlen eines Vollprogramms; als Italiens Oberster Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof Di Stefano diese Frequenz ausdrücklich zusprachen, negierte Berlusconi das Urteil. Mittlerweile bezweifelt Di Stefano, dass es überhaupt noch möglich ist, der Masse der Italiener ein kritisches Bewusstsein zu vermitteln: „Das Berlusconi-Fernsehen hat gründliche Arbeit geleistet: Es hat den Italienern ­Teile des Gehirns amputiert (una ­lobotomia). Dies ist ein Land, in dem die Regierenden von früh bis spät nach Möglichkeiten suchen, es auszurauben, und das Fernsehen ist dazu da, die Bürger zu betäuben. Vielleicht mögen die das sogar.“

Eine der Lehren aus dem italienischen Debakel muss sein, dass die EU dringend Leitlinien zur Verhinderung von Medienmonopolen nicht nur schaffen, sondern auch durchsetzen muss. „Information“ verträgt ein Monopol noch weniger als Saatgut oder Software. Das ist keine Nebenfront der Wettbewerbskontrolle, sondern muss ein Hauptkriegsschauplatz sein.
Das italienische Problem ist freilich auch durch perfekte Gesetze nicht zu beseitigen: Italien hat tadellose – aber es negiert sie. Es ist kein Rechtsstaat mehr.

Selbst wenn es Luigi Bersani wider Erwarten gelingen sollte, mit Abtrünnigen Beppe Grillos doch eine regierungsfähige Konstruktion zu schmieden (oder wenn Neuwahlen sie herbeiführen), wird dieses Problem bestehen bleiben: Italien hat sich daran gewöhnt, Gesetze so wenig zu achten wie seine Mafiosi. Denn es erlebt seit Jahrzehnten, wie die Mafia unaufhaltsam aufsteigt und vordringt: Sie ist die reichste und einflussreichste Institution des Landes – längst nicht mehr nur in Kalabrien, sondern genauso in der Lombardei. Auch wenn hin und wieder ein Capo vor Gericht steht, sind ihre Strukturen fest mit denen der Politik und Verwaltung verzahnt. Die Korruption bei der Vergabe öffentlicher Aufträge – neben dem Drogenhandel ihre wichtigste Einnahmequelle – ist allgegenwärtiges Vorbild. In den Worten des Mafia-Jägers Gherardo Colombo: „Anfangs haben wir gegen Parteichefs, Bürgermeister oder hohe Beamte ermittelt, mit denen die Bürger sich nicht identifiziert haben. Aber dann mussten wir erkennen, dass die Korruption alltäglich geworden ist. Auch der kleine Arbeitsinspektor oder Steuerprüfer nimmt Geld – keine großen Beträge, aber ganz selbstverständlich. Es sind nicht mehr ‚die da oben‘, die korrupt sind, sondern die Leute von nebenan, die sich fragen, warum sie es anders als die Regierenden machen sollen. Es gibt keinen Willen mehr, Korruption zu bekämpfen. So hat die Justiz den Kampf für das Recht verloren.“

Das sind Zustände, die stark an Griechenland erinnern.

Der „Süden“ hinkt dem „Norden“ wirtschaftlich nicht nur nach, weil die Produktivität zu niedrig oder die Staatsschuld zu hoch ist, sondern weil im Bereich der Wirtschaft ein Mindestmaß an Identifikation mit dem „gemeinsamen Staat“, dem „Gemeinwohl“ und „gemeinsamen Werten und Normen“ fehlt.

Es rächt sich, dass die protestantische (calvinistische) Wirtschaftsethik Italien oder Griechenland nicht einmal gestreift hat: Es wird nicht begriffen, dass Kapitalismus erfolgreicher ist, wenn ihn ein Mindestmaß an Rechtschaffenheit begleitet.

Abseits von ESM, IWF, EZB und was dergleichen Instrumente wirtschaftlicher Unterstützung oder Züchtigung mehr sind, wird es notwendig sein, dass sich die EU daran erinnert, dass sie eine „Wertegemeinschaft“ ist. Sie hätte längst Sanktionen gegen Berlusconis systematische Rechtsverachtung ergreifen müssen. Sie muss darauf dringen, dass die Schwarzgeld-Vorwürfe gegen Spaniens Staatschef Mariano Rajoy aufgeklärt werden. Selbst die Qualität des österreichischen Antikorruptionsgesetzes sollte ihr ein Anliegen sein.

In diesem Bereich ist ein gemeinsamer Standard mindestens so wichtig wie bei Bilanzen, CO2-Emissionen oder der Kapitalisierung von Banken.

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