Peter Michael Lingens: Grexitus oder nicht?

Gewissensfragen: Wurde Griechenland „kaputtgespart“? Oder ist es ein kaputter Staat?

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In meinen ersten Kommentaren zur Eurokrise und Griechenland plädierte ich für den Grexit. Nicht wegen Griechenlands schwacher Wirtschaft – die Portugals ist nicht stärker –, sondern wegen seines kaputten Staates: Ein Staat, in dem Nepotismus und Korruption allgegenwärtig sind und Reeder per Verfassung keine Steuer zahlen, sodass die Bürger es für legitim halten, es ihnen gleichzutun, kann nicht funktionieren. Ich sehe das zwar immer noch so, tippe aber weiter auf eine Einigung mit Alexis Tsipras: Man will nicht ans Nicht-Funktionieren glauben. Ob Griechenland, wie er behauptet, von der EU „kaputtgespart“ wurde, ist eine spannende, emotionsgeladene Frage, der ich so emotionslos wie möglich nachgehen will. Als in Griechenland 2000 der Euro eingeführt wurde, lag sein reales BIP pro Kopf bei 13.900 Euro – der Hälfte des österreichischen Wertes von 28.200 Euro. Von 2000 bis zur Finanzkrise des Jahres 2008 wuchs das reale BIP der Österreicher um stolze 15 Prozent auf 31.800 Euro, da sie besonders von der Ostöffnung profitierten. Wäre das BIP der Griechen im selben Ausmaß gewachsen, so hätte es 2008 bei 16.000 Euro liegen müssen.

Tatsächlich lag es bei 18.800 Euro – denn es ist um 31 Prozent hochgeschossen.

Ich tippe weiter auf eine Einigung mit Alexis Tsipras.

Die wunderbare BIP-Vermehrung ist leicht erklärt: Der Zuwachs von 2800 Euro pro Kopf gegenüber den kühnsten Erwartungen war Euro-Schaum. Verantwortungslose Banken – voran deutsche und französische – liehen dem griechischen Staat, seinen Banken und Bürgern leichtfertigst Geld, das einen künstlichen Boom entfachte: Wie in Spanien oder Portugal kauften die Bürger weit über ihre Verhältnisse ein – voran deutsche Autos. Noch mehr als in Spanien oder Portugal versorgten Griechenlands Parteien ihre Funktionäre mit teuren Staatsjobs. Und ungleich mehr kaufte Griechenlands Regierung Rüstungsgüter – zuletzt gleichfalls am liebsten deutsche. Denn nirgends war Korruption so einfach und ihre Finanzierung so sicher.

Griechenlands Preise und vor allem Löhne schossen in die Höhe und kosteten es angesichts seiner geringen Produktivität jede Konkurrenzfähigkeit. Es wurde selbst als Urlaubsland teuer.

Franz Schellhorn spricht zu Recht vom „Fluch des billigen Geldes“. Denn natürlich wäre der Konjunktor-Schaum selbst ohne Finanzkrise früher oder später platzend in sich zusammengesunken. Durch die Finanzkrise tat er es 2009. Der daraus resultierende gewaltige, schmerzhafte wirtschaftliche Rückfall der Griechen hat nicht das Geringste mit „kaputtsparen“ zu tun – er ist einfach die Rückkehr zur wirtschaftlichen Wahrheit.

Allerdings hätten die entstandenen Schulden neben leichtfertigen Griechen auch die deutschen und französischen Banken treffen müssen, die das Geld so leichtfertig verliehen haben. Aber so war es bekanntlich nicht: Indem Griechenland mit 240 Milliarden Euro von EU und IWF „gerettet“ wurde, blieb ihnen (und auch manchen österreichischen Instituten) der enorme Verlust aus ihrem Griechenlandengagement erspart. Deshalb finde ich es nicht absolut unfair, dass Deutschland jetzt vor Frankreich den größten Verlust aus der Haftung für Griechenland tragen müsste. Leider sieht die Bilanz für Österreich weit schlechter aus – und ganz schlecht für Slowaken oder Esten.

Wie katastrophal die EU-Politik gegenüber Griechenland dennoch war, zeigt die Entwicklung der Schuldenquote.

Heute liegt Griechenlands reales BIP pro Kopf mit 14.500 Euro (im Jahr 2013, für das exakte Zahlen vorliegen) immer noch über dem Vor-Euro-Niveau exakt auf der Höhe des Jahres 2000. Nur ist es weit schlechter verteilt: Eine kleine Oberschicht hat massiv dazugewonnen – darunter ist entsprechend viel weggebrochen. Trotzdem schreit diese Tatsache primär nach interner Umverteilung und dann erst nach Hilfe von außen.

Wie katastrophal die EU-Politik gegenüber Griechenland dennoch war, zeigt die Entwicklung der Schuldenquote: von 107 Prozent im Jahr 2009 stieg sie auf zuletzt 177 Prozent. Was wurde alles falsch gemacht?

Natürlich hat Griechenland darunter gelitten, dass auch funktionierende Staaten aufgrund des Sparpaktes ihre Importe zurückschraubten oder dass sparende Bürger bei ihren Griechenlandurlauben weniger spendabel waren.

Vor allem aber war es absurd, von Griechen, deren BIP pro Kopf nur mehr bei 14.500 Euro lag, sofort ein möglichst rasches Abtragen der aufgetürmten Schulden zu fordern. Statt eingedenk der eigenen Fehler – der verfehlten Aufnahme Griechenlands in die Eurozone, der ungenügenden Absicherung der Euro-Einführung durch Kontroll-Institutionen, der Verantwortungslosigkeit voran deutscher Banken bei Kreditvergaben und ihrer verfehlten Rettung auf vorerst griechische Kosten – rasch einen vernünftig dimensionierten Schuldenschnitt zu verfügen, verfügte man ihn halbherzig drei Jahre zu spät (2012) und zögert jetzt immer noch damit.

Obwohl klar ist, dass man das Geld nie zurückbekommen wird und dass Griechenland unter weiteren Einsparungen sozial und politisch zerbricht.

Portugal oder Spanien werden sich empören, ist der Einwand – auch bei ihnen wäre eine Kombination aus teilweisem Schuldenerlass und Hilfskrediten gegen Reformauflagen billiger gewesen.