Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Kampf bis zur letzten Stimme

Kampf bis zur letzten Stimme

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Dies ist die letzte Sekunde, zumindest jene Österreicher, die profil am Sonntagmorgen per Hauszustellung bekommen oder im Internet lesen, zu drängen, die EU-Wahl wahrzunehmen. Einmal, damit SPÖ, ÖVP, Grüne und NEOS die FPÖ zumindest gemeinsam klar in die Schranken weisen, vor allem aber, weil jede Stimme die Kür des künftigen Präsidenten der EU-Kommission und damit des wichtigsten EU-Funktionärs entscheiden kann. Ich habe meine Stimme an dieser Stelle vor einem Monat Othmar Karas versprochen, weil seine Liste dazu beitrüge, den von mir besonders geschätzten Christlich-Sozialen Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten zu machen. Doch die TV-Auftritte Junckers haben meine Empfehlung nicht gerade bestätigt: Er hat sehr defensiv agiert und präzise Aussagen vermieden. Teils, weil er als einer der wesentlichsten Akteure der bestehenden EU natürlich deren Aktionen verteidigen musste, vor allem aber, weil er die Stimmen der deutschen christlich-sozialen EU-Parlamentarier braucht. Das hat ihn Angela Merkels Spar-Pakt ebenso verteidigen lassen, wie es ihn gezwungen hat, alles zu vermeiden, was auf seine Sympathien für gemeinsame EU-Anleihen rückschließen lässt.

Dabei hat er diese in der Vergangenheit gefordert und wird sie als Präsident sicher weiter anstreben. Denn er gehört zu den Politikern, die ihre Ziele ebenso beharrlich wie diplomatisch verfolgen. Ich sehe darin seine große Stärke – aber man kann darin auch eine kritische Schwäche sehen.

Ausschließlich an ihren TV-Auftritten gemessen, wünschte ich mir mit Eugen Freund den Sozialdemokraten Martin Schulz, vor allem aber mit Angelika Mlinar den Vertreter des liberalen EU-Lagers, Guy Verhofstadt, zum Kommissionspräsidenten. (Wobei er freilich nur eine Chance hat, wenn die Christlich-Sozialen Gefahr laufen, dass Juncker Schulz unterliegt – dann nämlich könnten sie sich auf Verhofstadt als Kompromiss einigen.) Der Belgier vertritt jedenfalls präzise, was mir mit Abstand die positivste Entwicklung der EU erschiene: dass sie sich in den wesentlichen Bereichen – voran der Finanz- und der Sicherheitspolitik – weit enger zusammenschließt, alles andere (Glühlampen, Öl-Kännchen usw.) aber ebenso eindeutig in der Verantwortung der Nationalstaaten belässt. Zu den Absurditäten dieses Wahlganges zählt, dass der EU durch ihn die akute Gefahr der Verösterreicherung droht: So wie SPÖ und ÖVP hierzulande einer immer stärkeren FPÖ gegenüberstehen, deren „nationale“ Populisten das „System“ infrage stellen, stehen im EU-Parlament künftig die großen Fraktionen der Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen sowie Liberalen einer stark gewachsenen Gruppe populistischer, nationaler Mandatare gegenüber, die die EU infrage stellen.

In Österreich hat diese Konstellation bekanntlich triste Folgen: Nur SPÖ und ÖVP sind gemeinsam stark genug, um ohne FPÖ zu regieren; aber ihre Zusammenarbeit leidet zwangsläufig darunter, dass sie sich dennoch gegen-
einander profilieren müssen. Statt sich wenigstens auch ­gegen die FPÖ zu profilieren, lässt die Angst vor deren Wachstum sie immer mehr nationalistische Forderungen übernehmen. Zwar ist die Regierungsleistung in meinen Augen immer noch akzeptabel (wenn auch alles eher als berauschend), aber in der öffentlichen Wahrnehmung dominiert der Eindruck der Lähmung und des kleinlichen Gezänks – und verleiht der FPÖ Flügel.

Droht diese Entwicklung jetzt auch der EU?

Dagegen spricht, dass EU-Mandatare eine positive Auslese aus dem nationalen Politpersonal darstellen: intelligenter, kompetenter, sachlicher. Da sie sich im EU-Parlament auch nicht parteipolitisch profilieren müssen, wird ihre Zusammenarbeit unter den neuen Bedingungen unverändert über alle Parteigrenzen hinweg funktionieren. Vielleicht sogar noch besser als bisher, weil sie das nationale Lager beinahe zum Schulterschluss zwingt.

Die Probleme beginnen bei den erstarkten Kompetenzen des EU-Parlaments: Bekanntlich kann es neuerdings auch selbst Gesetze initiieren – doch das werden die Nationalen gar nicht erst versuchen; die Kernkompetenz aber besteht darin, zuzulassen oder zu verhindern, dass Initiativen der Kommission Gesetz werden. Hier können die „Nationalen“ als „Verhinderer“ punkten, wenn immer Sozialdemokraten, Christlich-Soziale, Grüne und Liberale einem Gesetz keine klare Mehrheit sichern.

Die Hauptgefahr lauert freilich unverändert „daheim“: Die 28 Regierungschefs, die nach wie vor die eigentliche Macht in der EU innehaben, stehen ja weiterhin unter wachsendem Druck ihrer nationalen Populisten. Wenn sie ihm, wie in Österreich, zunehmend nachgeben, werden die Folgen auch für die EU triste sein.

PS: Guy Verhofstadt argumentierte u. a., dass sich Nationalismus vor allem in der Pflege der jeweiligen nationalen Kultur niederschlagen sollte – und dass wir diese Vielfalt gleichzeitig als Europas größte Gemeinsamkeit entdecken sollten. Wer das ähnlich sieht, sollte am 29. Mai das Programm „Donauwellen“ von Mercedes Echerer mit der Musikgruppe „Folksmilch“ im Wiener ateliertheater Reloaded nicht versäumen. Dort ist Europa vereint.

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