Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Kapitalismus sei Dank

Kapitalismus sei Dank

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Zwei Drittel der Texte, die ich seit 2007 schreibe, befassen sich mit Schwächen, Verwerfungen und Auswüchsen des herrschenden Wirtschaftssystems. Manchmal denke ich, dass ich davon sogar ein bisschen verstehe: Zumindest ist mir ­außer Erich Streissler in Österreich niemand bekannt, der, wie ich, schon 2002 vorhergesagt hätte, was 2007 eingetreten ist. Ich stehe diesem System also mit ausreichend kritischer Distanz gegenüber. Aber es macht mich wahnsinnig, wenn ich zu Ostern ­„Europaweite Aktionstage gegen den Kapitalismus“ erleben musste, die in Österreich zwar nur ein müdes Häufchen, in Deutschland aber erstaunlich viele Leute auf die Straße brachten. Die vielen Wortmeldungen zum „Versagen des Kapitalismus“ scheinen in manchen Linken eine alte Hoffnung neu zu beleben: dass sie das „Ende des Kapitalismus“ erleben werden. Das reizt mich, dem eine Antithese entgegenzustellen: Wir erleben den erfolgreichsten Kapitalismus, den es je gab.

Einen eindringlichen Beleg liefert der jüngste Bericht der Weltbank zur Entwicklung der „extremen Armut“1). Als ex­trem arm gilt, wer weniger als 1,25 Dollar an Kaufkraft pro Tag zur Verfügung hat. 1981 galt das weltweit für jeden zweiten Bewohner eines Entwicklungslands – 2008 nur mehr für jeden fünften. Am eindrucksvollsten ist die Entwicklung erwartungsgemäß in China: 1981 lebten dort 85 Prozent der Menschen in extremer Armut – 2008 waren es 13 Prozent.

Aber auch wenn man China ausklammert, bleibt die Tendenz für die Länder der Dritten Welt ermutigend: Die extreme Armut ist dann immer noch von 41 auf 25 Prozent zurückgegangen. Sogar in Afrika sind erstmals weniger als 50 Prozent der Menschen „extrem arm“.

Dies alles hat der „versagende Kapitalismus“ trotz dramatischen Bevölkerungswachstums und aktueller „Finanzkrise“ in den vergangenen dreißig Jahren geleistet.

Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass vieles, was wir als Probleme „unserer“ Volkswirtschaften empfinden, unmittelbar mit diesem globalen Aufschwung zusammenhängt: Die gigantischen Ströme unkontrollierten Kapitals, die in New York Blasen gebildet haben, sind eben auch in die letzten Ecken der Welt geflossen. Dass die „Finanzkrise“ die USA heimgesucht hat, ist nicht zuletzt Folge des Aufstiegs Chinas, das ihnen immer mehr verkaufen konnte. Das „ungezügelte Profitstreben“ der globalen Konzerne hat nicht nur Waren extrem verbilligt, sondern auch Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Wenn Arbeiter in Österreich sich davor fürchten, dass heimische Unternehmen in Rumänien, Malaysia oder Indien produzieren, so freuen sich Arbeiter in diesen Staaten über geschaffene Jobs. In Summe – so beweisen die genannten Zahlen – hat der weltweite Reichtum geradezu sagenhaft zugenommen, auch wenn er hier nur als Verminderung der Armut dargestellt ist.

Erst nachdem dies klargestellt ist, sind Einwände angebracht: Auch nach den Berechnungen der Weltbank wird 2015 noch eine Milliarde Menschen unter extremer Armut leiden. Auch diejenigen, die ihr entronnen sind, leben noch längst nicht gut: Die Zahl derer, die von weniger als zwei Dollar pro Tag leben müssen, ist von 2,59 Milliarden im Jahr 1981 nur auf 2,47 Milliarden im Jahr 2008 zurückgegangen.

Allerdings ist die Weltbevölkerung im gleichen Zeitraum von 4,5 auf 6,7 Milliarden gewachsen, sodass dennoch außer Zweifel steht: In keinem Zeitraum der Geschichte konnte Massenarmut in dem Ausmaß vermindert werden wie in den jüngsten Jahrzehnten der „gefährlichen Globalisierung“ und des „versagenden Kapitalismus“.

Dass der technologische Fortschritt zu weit mehr imstande gewesen wäre, ist laufend Argumentation meiner Kolumnen: Natürlich ist irritierend, wenn der zunehmende Reichtum der Entwicklungsländer extrem ungleich verteilt bleibt; wenn – etwas näher – in Russland, Rumänien oder Bulgarien ein Klüngel von Milliardären einer fast unverändert armen Bevölkerung gegenübersteht. Wenn in Griechenland Leute aus Angst vor Verarmung in Selbstmord flüchten. Und natürlich ist ärgerlich, dass selbst 95 Prozent der Österreicher und der Deutschen trotz florierender Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren an Kaufkraft eingebüßt haben.

Aber das alles sind nicht „Wesenszüge“ des „kapitalistischen Systems“, sondern Fehlentwicklungen, die sich bekämpfen lassen. Man brauchte – beispielsweise – nur Agrarimporte aus der Dritten Welt zu fördern, statt die eigene Landwirtschaft kostspielig vor ihnen zu schützen, und schon beschleunigte sich dort die Überwindung der Armut. Man kann gewerkschaftliches Know-how statt Waffen in Entwicklungsländer exportieren. Natürlich kann man auch Finanzströme besser in produktive Investitionen statt in Blasen lenken, indem man Banken und Schattenbanken besser reguliert. Polen führt vor, dass die „Wende“ sehr wohl einen Mittelstand hervorbringen kann. Und ich könnte hier problemlos erläutern, welchen Versäumnissen die Griechen ihr Desaster oder die Österreicher ihren Kaufkraft-Verlust verdanken.

Nicht der „Kapitalismus“ versagt – sondern wir haben seine Möglichkeiten nicht optimal genützt.

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