Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Kein Monopol auf Schwachsinn

Kein Monopol auf Schwachsinn

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Das sind die kleinen Freuden eines heimischen Kommentators? Dass wir kein Monopol auf unsinnige ­Politik haben!
Auch Deutschland leidet wie wir, Italien oder Spanien an einer extrem niedrigen Geburtenrate, die unter anderem bedeutet, dass 2030 jeder „Werktätige“ einen „Pensionisten“ erhalten muss. Denn in allen genannten Ländern haben konservative, katholische Parteien ihre Sicht von der „Bestimmung der Frau“ durchgesetzt: Sie habe „Frau & ­Mutter“, nicht aber berufstätig zu sein – deshalb bedürfe es keiner Kindergärten oder Ganztagsschulen, sie bei der Kinderbetreuung zu unterstützen. Einziges Problem: Ausgerechnet die Frauen wollten diese Sicht nicht teilen, sondern sehr wohl einem Beruf nachgehen. Das aber war angesichts des Fehlens von Kindergärten und Ganztagsschulen nur möglich, wenn sie höchstens ein Kind hatten. Daher die in allen katholischen Ländern extrem niedrige Geburtenrate. Mit der einzigen Ausnahme Frankreichs: Weil Parteien und Kirche dort schon 1970 übereinkamen, doch Kindergärten zu forcieren, gibt es in Frankreich Kinder genug.

Jede christlich-soziale Partei konnte diese Zusammenhänge durch Jahrzehnte studieren. Trotzdem hat sich die ÖVP noch bis vor Kurzem gegen Kinderkrippen gewehrt und setzt bis heute auf Geburtenförderung durch Geld: Die finanzielle Förderung der Familie ist eine der höchsten der EU – mit dem Erfolg, dass die Geburtenrate zu den niedrigsten der EU zählt.

Denn natürlich lässt sich kaum eine Frau durch etwas mehr Geld zu einem zweiten Kind animieren, sondern investiert es allenfalls in ein zweites Auto, weil es weiterhin zu wenig Kindergärten und Ganztagsschulen gibt, sodass sie ihr einziges Kind ständig irgendwo hinbringen oder abholen muss.
Aber nun das Erfreuliche: Nicht nur die ÖVP brauchte Jahrzehnte, diese Zusammenhänge immerhin zu ahnen, die CDU/CSU sieht sie bis heute nicht: Obwohl der Ausbau von Kindergärten weit hinter dem Bedarf herhinkt, hat sie soeben ein „Betreuungsgeld“ für Eltern beschlossen. Das wird zwar sicher nicht mehr Kinder bringen – aber es könnte die Verschrottungsprämie beim Zweitwagenkauf ersetzen.

Mit dem sicher falschen Rezept an Probleme heranzugehen ist nicht auf Geburtenraten beschränkt. So gibt es bei uns wie in Deutschland das Problem steigenden Autoverkehrs auf Strecken, auf denen man ihn umweltschonend und kostensparend durch öffentlichen Verkehr ersetzen könnte: Hunderttausende pendeln mit dem Auto in nahe Städte, statt in eine Schnell- oder U-Bahn zu steigen und das Auto Park-&-Ride-Garagen anzuvertrauen.

Aber statt diese öffentlichen Verkehrssysteme zu schaffen, zahlt man den Betroffenen lieber über Jahrzehnte eine Pendlerpauschale, die sie eisern beim Auto hält.

Jetzt will sie der ÖAAB sogar beträchtlich erhöhen, und die SPÖ hat sich dem wider besseres Wissen angeschlossen, denn es gibt eine Million Pendler. Mehrkosten: 110 Millionen Euro – während der für Österreichs Wirtschaft unverzichtbaren Montanuniversität 35 Millionen zur Aufrechterhaltung ihres Betriebs fehlen. Aber man muss eben ­Prioritäten setzen: NÖ-Wahlen gehen vor.

Mein Kollege Christian Ortner hält das für ein politisches Prinzip und hat darüber ein glänzendes Buch mit dem Titel „Prolokratie“1) geschrieben: In einem Staatswesen, in dem sechs Millionen Bezieher von Transfer­zahlungen zwei Millionen Nettozahlern gegenüberstehen, ­würden Politiker immer nur beschließen, was ihrer Wiederwahl dient – auch wenn es noch sosehr zulasten künftiger Generationen geht.

Da ist eine Menge dran. Leser der „Presse“, für die Ortner unter anderem schreibt, werden sogleich mit ihr und ihm übereinstimmen, dass der ständig erweiterte Sozialstaat die Ursache der aktuellen Schuldenkrise ist.
Nur dass das nicht mit den Ziffern übereinstimmt: Von 1995 bis 2007 ging Österreichs Staatsschuld im Verhältnis zum BIP von 68,3 auf 60,2 Prozent zurück – erst dann übersprang sie die kritische 60-Prozent-Grenze wieder deutlich, weil der Staat die von den USA mit Schrottpapieren infizierten Banken retten musste und einen Einbruch der Konjunktur abwehren wollte. In den meisten Staaten der EU verlief die Entwicklung ähnlich.
Die Schuldzuweisung an den „ständig wuchernden ­Sozialstaat“ ist hierzulande ein Steckenpferd der Wirtschaftsjournalisten.
Dass das Beschließen immer neuer kostspieliger sozialer Wohltaten vor 1995 ein gravierendes Problem war und es derzeit wieder ist, unterschreibe ich indessen voll und halte daher vor allem Ortners zweite These für höchst bedenkenswert: dass die demokratischen Staaten ins Hintertreffen gegenüber autoritär geführten Staaten geraten könnten, wenn Politiker – um ihre Wiederwahl abzusichern – unpopuläre, aber richtige Entscheidungen immer wieder zugunsten von Pröll-Entscheidungen zurückstellen.

Das autoritäre China ist leider tatsächlich wesentlich erfolgreicher als das demokratische Indien.

Ich tröste mich vorerst damit, dass das BIP pro Kopf eines Chinesen 5414 Dollar gegenüber 49.800 Dollar eines Österreichers beträgt. Aber ich gebe zu, dass das eher trotz der Regierung so ist.

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