Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens: Lehren aus dem Brexit

Die aktuelle Wirtschaftspolitik befördert den Exit aus dem herrschenden Wirtschaftssystem; und Multikulti funktioniert nicht einmal in Großbritannien.

Drucken

Schriftgröße

Mittlerweile ist klar, was dazu geführt hat, dass die Mehrheit der Briten sich für den Brexit entschieden hat: die Angst vor Überfremdung; und die gewachsene Ungleichheit, die immer mehr Lohnempfänger zu Verlierern der ökonomischen Entwicklung gemacht hat.

Letzteres behaupte nicht ich, der ich angeblich im Alter „links“ bin, das behauptet auch nicht die „Armutskonferenz“, sondern das behaupten die volkswirtschaftlichen Experten der Bank of America und von Pimco, einer der weltgrößten Investmentgesellschaften, in ihren Analysen der britischen Ereignisse: „Der Brexit ist die Antwort der Wähler auf das Zeitalter der Ungleichheit“, heißt es bei der Bank of America wörtlich. Es zeige sich, dass viele Menschen selbst in einem Land ohne Wirtschafts- oder Finanzkrise zu einem derartig radikalen Schritt bereit sind, weil die wirtschaftliche Erholung der vergangenen Jahre offenbar an ihnen vorbeigegangen ist.

Zum gleichen Schluss kommen die Pimco-Experten: Es handle sich um ein Protestvotum „gegen wachsende Ungleichheit und die Globalisierung“ und würde den Druck auf die Regierungen erhöhen, mehr gegen diese Ungleichheit zu unternehmen und Einkommen mittels Steuerpolitik und Regulierungen stärker umzuverteilen.

Wie zur Illustration wurde soeben die neueste Untersuchung über die Einkommensentwicklung der Briten veröffentlicht: Die Einkommenssituation in rund elf Millionen Haushalten, das entspricht etwa der Hälfte der Arbeitsbevölkerung in Großbritannien, hat sich seit dem Jahr 2002 nicht verbessert, sondern verschlechtert, weil die Lebenskosten (voran Wohnkosten) bei stagnierenden Löhnen deutlich gestiegen sind.

Nicht anders ist die Situation natürlich auch in Österreich und Deutschland: Breite Teile der Bevölkerung haben angesichts steigender Preise für Nahrungsmittel und Mieten – also für unverzichtbare Güter – seit bald 15 Jahren Reallohnverluste erlitten.

Aber seit ebenso vielen Jahren weisen angebliche Wirtschaftsexperten der ÖVP, wie Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl oder zuletzt Finanzmister Hans Jörg Schelling, die Forderung nach Verringerung der Ungleichheit „mittels Steuerpolitik“ (Pimco) empört zurück und empfinden schon Vermögenssteuern, wie sie nur von der Slowakei unterboten werden, als völlig ausreichend. Jede Erhöhung sei ein Anschlag auf den Wirtschaftsstandort.

Der Brexit ist die Antwort der Wähler auf das Zeitalter der Ungleichheit.

Wie in Barbara Tuchmans Bestseller „Die Torheit der Regierenden“ begreifen sie nicht, dass es zu „Exits“ aus dem angeblich von ihnen vertretenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem kommen muss, wenn nicht endlich gegengesteuert wird. Sie besitzen offenbar – man kann es leider nicht höflicher sagen – nicht die intellektuelle Kapazität, die die Wirtschaftsfunktionäre wirklich großer Wirtschaftsunternehmen wie Pimco oder der Bank of America offenbar besitzen. So wie man unter österreichischen (wie deutschen) Unternehmern leider nur selten auf Männer vom Format des ersten Henry Ford trifft, der schon 1890 wusste: „Ich muss meine Leute gut bezahlen, damit sie meine Autos kaufen können.“

Die zweite Lehre aus dem Abstimmungsverhalten betrifft den Umgang mit der Zuwanderung: Der Wähler beurteilt sie mit den Emotionen aus seinem Stammhirn – das in den Gehirnlappen angesiedelte rationale Denken hat dagegen keine Chance.

Nur so ist es zu erklären, dass die bloßen Fotos von Flüchtlingstracks, die UKIP-Chef Nigel Farage auf seine Busse klebte, die Briten die EU vor allem wegen deren Flüchtlingspolitik verlassen ließ, obwohl kaum ein erwachsener syrischer oder irakischer Flüchtling die britische Insel betreten hat.

In Wirklichkeit ist es ein Wunder und spricht für die enorme Fremdenfreundlichkeit und Toleranz der Österreicher, dass Heinz-Christian Strache hierzulande, wo diese Fotos in Nickelsdorf oder Spielfeld geschossen werden konnten, nur bei 30 Prozent Zustimmung liegt. (Ebenso erstaunlich, aber durch die lange „Umerziehung“ der Nachkriegszeit etwas leichter zu erklären: das tolerante Verhalten der Deutschen.)

Es wäre allerdings ein grober Fehler, bei den Briten besondere Fremdenfeindlichkeit zu vermuten: Sie haben zwar jetzt fast keine Flüchtlinge aufgenommen, aber sie nehmen seit 1945 ständig Zuwanderer aus dem Commonwealth auf, denen sie freien Zuzug erlauben. Das war angesichts der vielen Farbigen unter ihnen schon vor 60 Jahren, als ich meine ersten Ferien in England verbrachte, ein viel diskutiertes Problem. Es wurde auch immer wieder von Politikern zum Stimmenfang genutzt. Nur hat das extrem mehrheitsfördernde, kleinere Parteien extrem behindernde britische Wahlrecht verhindert, dass schon lange vor UKIP eine dieser Parteien Furore machte.

Das multikulturelle Zusammenleben, so muss man leider resignierend feststellen, funktioniert auch im extrem toleranten, weltoffenen Großbritannien nur bis zu einer gewissen Grenze, die 2016 offenbar erreicht worden ist. Europa muss dringend über eine neue Politik gegenüber Entwicklungs- und Schwellenländern nachdenken, wenn wir nicht riskieren wollen, dass sie überall gesprengt wird.