Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Lieber Militär- als Gottesstaat

Lieber Militär- als Gottesstaat

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Wie mein Kollege Georg Hoffmann-Ostenhof gebe ich die Hoffnung auf ein demokratisches Ägypten oder Tunesien nicht völlig auf: Tunesiens islamistische Ennahda-Partei will immerhin mit der säkularen Opposition verhandeln; aber in Ägypten überbieten einander die Moslembrüder und Abdel Fattha al-Sisi in blinder Sturheit. (El-­Bara­dei anzuklagen und Mubarak zu enthaften, verrät das Fingerspitzengefühl des Generals).

Jedenfalls frage ich mich, ob ich den Sturz autoritärer, pro-westlicher Regime in islamischen Ländern wirklich weiterhin herbeihoffen soll. Denn ich fürchte, dass es den ­Tunesiern unter Ben Ali, den Libyern unter Muamar Gaddafi und den Ägyptern unter Hosni Mubarak eher besser als heute gegangen ist – ja, dass der Übergang von diesen Regimen zu lebenswerteren Verhältnissen näher war: Gaddafi mühte sich um westliche Akzeptanz und Mubarak hielt sogar so etwas wie Wahlen ab.

Die „Arabellion“ ist bis jetzt nur nach hinten losgegangen:
Obwohl säkulare Studenten sie angeführt hatten, spülte sie konservative Islamisten an die Macht: Die Muslimbrüder, die durch ihr langes Untergrund-Dasein als einzige eine funktionierende Organisation besaßen und bei der Bevölkerung schon bisher mit sozialen Leistungen gepunktet hatten, mussten die ersten freien Wahlen zwangsläufig gewinnen.

Danach erwiesen sie sich wegen eben dieses langen Untergrund-Daseins als völlig regierungsunfähig im technischen wie demokratischen Sinn: Sie nutzten die Macht, wie man sie gegen sie genutzt hatte, und versuchten, „islamische Staaten“ durchzusetzen. Was Nicht-Muslimbrüder wollten, war ihnen restlos egal.

Ich weiß, dass es politisch unkorrekt ist, aber ich halte „gelebten“ Islam für unvereinbar mit Demokratie: Wer meint, die Wahrheit zu besitzen, ist zwangsläufig intolerant. Er will keine Gesellschaft selbstbestimmter Menschen, sondern letztlich den „Gottesstaat“. Es läuft am Ende doch auf einen „Krieg der Kulturen“ ­hinaus: „Gottesstaat“ oder Säkularität.
Ein von den Muslimbrüdern auf Dauer beherrschter Staat – so scheint das sogar die aktuelle Mehrheit der Ägypter zu sehen –, wäre noch unerträglicher als selbst ein ­neuerliches Militärregime.

Auch bezüglich solcher autoritärer, pro-westlicher Regime sind bestimmte Muster evident:
Alle Despoten waren zwar vordergründig Muslims, sahen in „Islamisten“ aber ihre gefährlichsten Gegner, die sie mit allen Mitteln bekämpften.

Auch sonst hielten sie „Ruhe und Ordnung“ mithilfe ­einer Polizei aufrecht, die weder Folter noch Mord scheute. Doch wer nichts gegen das Regime unternahm, konnte in Frieden leben.

Alle Despoten und ihre Familien stahlen wie die Raben und die von ihnen betriebene Marktwirtschaft war durch Korruption und Nepotismus alles eher als effizient – aber sie existierte immerhin und wuchs.

Westliche Unternehmen, die dabei immer vorrangig zum Zug kamen, beuteten Bodenschätze zwar in erster Linie zu ihren Gunsten aus, aber sie hoben sie immerhin und sorgten für funktionierende Anlagen und Arbeitsplätze. Zugleich brachte die wachsende Wirtschaft immer auch einige reiche, nationale Unternehmer hervor, deren Interessen die Despoten berücksichtigen mussten – so nicht zuletzt das Interesse an besser ausgebildeten Arbeitskräften und damit an Schulen und Universitäten.

Dort, in der Wirtschaft und an Schulen und Universitäten, wird der Grundstein zu jenem Mittelstand gelegt, der irgendwann eine funktionierende Demokratie ermöglicht.

Ein Anfang dazu war in Ägypten und Tunesien durchaus gemacht – aber eben erst ein Anfang.

Ich führe zugunsten dieser These den einzigen Dritte-Welt-Staat an, in dem in jüngerer Zeit ein autoritäres Regime unblutig in eine funktionierende Demokratie übergegangen ist: Südkorea brachte es zuerst zu einer starken Wirtschaft und immer besseren Ausbildungsstätten – dann musste sein autoritärer Staatschef die Macht mit den Eigentümern großer Konzerne und zuletzt auch mit dem Volk teilen.

Freilich stand dem kein „gelebter Islam“ im Wege, wie ich ihn für das eigentliche Unheil der arabischen Welt halte.

Ich plädiere dafür, die Schwarz-Weiß-Unterscheidung in „autoritär“ und „demokratisch“ in Bezug auf Staaten der Dritten Welt aufzugeben und durch ein differenzierendes Bewertungssystem zu ersetzen:

Das meiste Gewicht sollte darin dem wirtschaftlichen Wohl der Bevölkerung zukommen: der Beschäftigungs­rate und der Nahrungsmittelversorgung. (Motto: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.)

Danach käme das Ausmaß der persönlichen Freiheit der Durchschnittsbürger (vorerst noch nicht der Dissidenten oder Journalisten).

Danach das Ausmaß von Rechtssicherheit, Bürger- und Minderheitsrechten, und erst am Schluss das Ausmaß demokratischer Mit­bestimmung, auch wenn sie sicherlich Endziel der Entwicklung sein soll.

Wenn wir Staaten nach diesen Kriterien bewerten und die Fortschritte belohnen, die sie auf dieser Werteskala ­machen, werden wir seltener Fehleinschätzungen zu ­bereuen haben.

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