Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Mein Aussee-Auweh

Mein Aussee-Auweh

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Ich bin Partei: Durch fünfzehn Jahre gehörte mir in Aussee ein Ausgedinge-Häuschen an der Außenflanke jenes Reiterer-Plateaus, von dem ich in profil lesen konnte, dass in seiner Mitte, aus der zu meiner Zeit Sumpfblumen wuchsen, in Zukunft zehn Appartementhäuser, drei Hotels und ein Hallenbad wachsen werden. Heute gehört das Häuschen zwar meiner geschiedenen Frau, aber nicht nur schätze ich sie unverändert, sondern es sind auch unsere Kinder und Enkel durch die Wiesen dieses Plateaus gelaufen, und bis heute treffen wir uns auf der Terrasse des Hotels „Wasnerin“, das es wie die Arche Noah überragt, um den einzigartigen Blick zu genießen.

Viel mehr Partei ist also kaum möglich. Wie bestechend, dass unser Familieneigentum nach dem Auffrisieren der „Wasnerin“ mit diversen Extensionen jetzt auch durch eine Nobelsiedlung finanzielle Aufwertung ­erfährt – wobei wir sie nicht einmal sehen müssen, weil unser Haus, wie alle bisherigen Häuser, seitwärts und tiefer liegt. Erst wenn wir die paar Meter zur „Wasnerin“ hochsteigen, sehen wir, was der Landschaft angetan wird: Man hat Bulldozer losgelassen, um ihr das Herz herauszureißen und durch mehrgeschoßiges „Investment“ zu ersetzen.

Das „Salzkammer(Kultur)gut“ erleidet einen Schaden, der nie mehr gutzumachen sein wird – es sei denn, unsere Gesellschaft wird einmal so reich und dennoch kultiviert sein, dass sie dergleichen wieder abreißt.

Ich nutze noch einmal Familiengeschichte, um Außenstehenden das Ausmaß des Vergehens vor Augen zu führen. Schon der Vater meiner Mutter mietete jedes Jahr für zwei Sommermonate einen Bauernhof auf der Obertressen, ­einer Bergflanke über dem nahen Grundlsee, auf der die Merans, Czernins und Karajans kostbare Villen besaßen, weil sie der Ansicht waren, dass sich ihnen hier die herrlichste Aussicht des Ausseerlandes bot. Bestritten wurde das eigentlich nur von den Anrainern des benachbarten Altausseer Sees, die über das Wasser auf die Trisselwand schauen durften. Aber mein Großvater, der beides auswendig kannte, fuhr zur „Wasnerin“, wenn er „den schönsten Blick von allen“ genießen wollte: Gerahmt vom vergletscherten Dachstein zur Rechten und den Felswänden des Loser zur Linken, reicht er unverstellt bis ans Tote Gebirge. Als hoher Bahnbeamter machte er 1921 eine mehrmonatige „Weltreise“, die ihn zu allen damals berühmten Tourismuszielen führte – nur um sich bei seiner Rückkehr vor der „Wasnerin“ aufs Reiterer-Plateau zu stellen und zu erklären: „Jetzt kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass dies der schönste Platz der Welt ist.“

Vier Jahrzehnte später habe ich als Student die Schriftstellerin und internationale Spitzendiplomatin Clare Boothe Luce (Gattin des „Time-Life“-Verlegers Henry Luce) mit dem Auto durch alle Tourismus-Highlights Österreichs chauffiert, um von ihr das gleiche Urteil zu hören: „There is nothing more beautiful.“

Die Einzigartigkeit dieses Ausblicks kann nur begreifen, wer Landschaften gesehen hat, die – wie etwa der Yose­mite-Nationalpark in den USA – ähnliche prachtvolle Formationen anbieten: Doch alles, was es dort über riesige Flächen verteilt gibt – schneebedeckte Gipfel und blumige Wiesen, sanfte Hügel und bizarre Gebirge, weite Hänge und steile Felswände –, ist in dieser Ausseer Aussicht auf engstem Raum versammelt, so als wollte der Herrgott in einem einzigen Schaufenster zeigen, was er alles zu bieten hat.

Sigmund Freud und Karl Popper haben diese Aussicht bewundert; Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig haben sich dran erfreut; Richard Strauss und Johannes Brahms haben sie genossen; Wilhelm Kienzl hat seinen „Evangelimann“ unmittelbar hier, vor der „Wasnerin“, komponiert. Aber der Ausseer Bürgermeister schafft dort jetzt „Arbeitsplätze“ – in Wirklichkeit einen gigantischen Gewinn für den Grazer Investor Reinhard Hohenberg, der Grünland erworben hat und Bauland verwerten darf, um eine Wohn-Enklave zu schaffen, die deutschen Millionären gefallen dürfte.

Natürlich weiß ich, dass Aussee ein Hotel und Appartements brauchen kann – aber dafür gibt es andere Plätze. Selbst an der Seite des Plateaus, dort, wo es an die Pötschenstraße grenzt, wären sie erträglich – aber nicht mittendrin. Man errichtet schließlich auch keine Appartements auf dem Markusplatz in Venedig – so gut sie sich dort verkauften. Nur ein Blinder, umgeben von lauter Blinden, kann eine Siedlung mitten im Reiterer-Plateau bewilligen.

Ja, ich bin Partei: Meine Mutter ist durch neunzig Jahre – alle Lebensjahre mit Ausnahme derer, die sie in ­Auschwitz verbrachte – nach Aussee gefahren. Man hat zu ihren Ehren auf dem Reiterer-Plateau ein „Ella-Lingens-Bankerl“ aufgestellt, in das diese drei Worte geschnitzt sind. Ich bin mit meinen Kindern darauf gesessen und habe ihnen gesagt: „Von hier habt ihr den schönsten Blick der Welt.“ Jetzt steht dort eine Bau-Toilette. Und der schönste Blick der Welt ist demnächst Geschichte. Wer ihn je genossen hat, weiß: In Wahrheit ist dies ein objektiver Text.

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