Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Mein Unsinn vom vorigen Jahr

Mein Unsinn vom vorigen Jahr

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Mein Kollege Peter Rabl hat gemeint, wir sollten irgendwann ein gemeinsames Buch über den Unsinn herausgeben, den wir im Lauf der Jahrzehnte geschrieben haben. Ich möchte diese Idee zumindest für das abgelaufene Jahr aufgreifen: Meine Ende des Jahres formulierte negative Bewertung der Entwicklung der USA hält der Überprüfung schon jetzt nicht stand. „Das Leistungsbilanzdefizit“, schrieb ich, „bleibt besorgniserregend; die Staatsverschuldung bleibt dramatisch. Die Wirtschaft wird weiter nur wenig wachsen; die Arbeitslosigkeit wird hoch bleiben. Obama wird sich aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Kongress so wenig wie in den vergangenen vier Jahren rühren können.“

Nicht, dass das alles falsch wäre – aber ich habe entscheidende Positiva außer Acht gelassen:
Dass nach dem Irak- auch der Afghanistan-Krieg zu Ende geht, erspart den USA demnächst die enormen Militärausgaben, die die Hauptursache ihrer hohen Staatsschuld sind.
Die Gewinnung von Erdöl und Erdgas durch „Fractioning“ macht sie in absehbarer Zeit vom Energieimporteur zum Energieexporteur. Sie erleichtert die von Obama geforderte „Re-Industrialisierung“ und verbessert die kritische Leistungsbilanz der USA. Zumal der niedrige Dollarkurs US-­Exporte in dem Ausmaß befördert, in dem der hohe Eurokurs EU-Exporte erschwert.

Last, but not least – darauf habe ich allerdings zumindest hingewiesen – „sind die USA trotz Krise unendlich reich“: Auch wenn jeder siebente Bürger an der Armutsgrenze lebt, haben 312 Millionen Amerikaner pro Kopf geschätzte 100.000 Euro auf der hohen Kante. „Eine etwas höhere Vermögen­steuer“, so schrieb ich, „und sie wären ihre Schulden los.“
Nur dass ich Steuererhöhungen gegen die Mehrheit der Republikaner im Kongress für chancenlos hielt. Doch Mitt Romneys deutliche Niederlage scheint ihnen die dicksten Bretter vom Hirn gerissen zu haben, und das „fiscal cliff“ hat ihre strategische Position untergraben: Das Paket, das der Kongress für den Fall des Scheiterns aller Verhandlungen geschnürt hatte, enthielt so massive allgemeine Steuer­erhöhungen, dass ihnen gar nichts übrig blieb, als ihnen wenigstens bei den „Reichen“ zuzustimmen.
Nicht, dass das die Strukturprobleme der USA – das desolate Schulsystem, die desolate Infrastruktur oder die Rückständigkeit der traditionellen Industrie – gegenstandslos machte, aber es erlaubt, ihre Lösung in Angriff zu nehmen. Der von mir (aber auch vielen liberalen Ökonomen) aufgrund der horrenden Verschuldung für möglich gehaltene neuerliche Absturz bleibt vermutlich (hoffentlich) doch eher aus.

Das gilt vermutlich (hoffentlich) auch für die EU. Zumindest mit meiner Aussage „Der Euro bleibt“ fühle ich mich auf der sicheren Seite, obwohl mein Kollege Christian Ortner in der „Presse“ erst kürzlich den schuldenbedingten Untergang der Eurozone prophezeit hat.
Die Eurozone, so behaupte ich weiterhin, betreibt unter Angela Merkels Führung eine durchaus sinnvolle Politik: Der ESM knüpft Geldflüsse an kriselnde Mitglieder an die Verpflichtung zu energischem Sparen und Strukturreformen. Gleichzeitig sorgt die EZB durch ihre Entscheidung, Staatsanleihen dieser Länder notfalls unbegrenzt anzukaufen, dafür, dass deren Zinsenlast an den Finanzmärkten erträglich ist. „Im Gegensatz zu Franz Schellhorn in der ‚Presse‘“, so schrieb ich, „halte ich das für goldrichtig. Nicht weil die EZB tatsächlich unbegrenzt ankaufen soll, sondern weil die bloße Ankündigung ihrer Bereitschaft die Zinsen bereits erheblich gesenkt hat.“

Als ich diese Thesen auch in der „Presse“ vertrat, weil ich meinte, dort könne man sie seriös diskutieren, feuerte Schellhorn folgende Polemik ab: „Es ist höchst erfrischend, von Peter Michael Lingens für ein paar Minuten aus dem europäischen Jammertal entführt zu werden, um einen Blick auf jene saftig grünen Landschaften zu werfen, die die Retter des Euro für uns gerade beackern. Nur noch ein wenig Vertrauen in die Geldpolitik der EZB, und wir können die Staatsschuldenkrise bald lautlos in unsere Geschichtsbücher verstauen. Die schlecht wirtschaftenden Eurostaaten hätten nämlich kapiert, dass sie ihre Haushalte in Ordnung bringen müssen. Niemand, so Lingens, wolle dem Süden Geld schenken, vielmehr müsse er vor erdrückenden Zinslasten geschützt werden, die ihm von schlecht informierten Märkten aufgeladen werden.“

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die die EZB-Politik meist so kritisch wie Schellhorn kommentiert hatte, erschien jetzt folgendes Resümee des Börsenjahres: „Investoren haben mit Wetten auf den Bestand der Währungsunion 2012 hohe Gewinne erzielt. Entscheidend war, dass die EZB ihr Notprogramm etwaiger Anleihekäufe vom Reformwillen der betroffenen Regierungen abhängig machte und dafür die so entscheidende Rückendeckung der Bundesregierung erhalten hat. Das erklärt, warum sich die Risikoprämien an der Peripherie so rasant abgebaut haben.“
Es erklärt auch, warum ich die „FAZ“ so schätze: Was immer ihre Kommentatoren meinen – sie scheut nie davor zurück, es mit den eingetretenen Fakten zu konfrontieren.

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