Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Merkels Fahnen-Juncker?

Merkels Fahnen-Juncker?

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David Cameron wird nicht verhindern können, dass Jean- Claude Juncker Kommissionspräsident wird. Das wird ein erster Erfolg der EU nach diesen Wahlen sein: Sie lässt sich von Großbritannien nicht an sinnvollen Entscheidungen hindern. Wenn Juncker die Union freilich ernsthaft sanieren will, wird er die Forderung des liberalen Kandidaten Guy Verhofstadt erfüllen müssen: „Erstens Arbeitsplätze schaffen! Zweitens Arbeitsplätze schaffen! Und ­drittens Arbeitsplätze schaffen!“ Die EU ist aus einer Wirtschaftsgemeinschaft hervorgegangen – wenn sie wirt­schaft­lich nicht funktioniert, wird sie untergehen.

Dass Parteien, die den Austritt aus der EU auf ihre Fahnen schreiben, in Frankreich und England Wahltriumphe feiern konnten, sollte Warnung genug sein. Die Menschen brauchen Arbeit, um ausreichend zu verdienen – und sie brauchen Arbeit für ihr Selbstwertgefühl. Angst vor Arbeitslosigkeit fressen Seele auf. Wenn die EU das Gespenst der Arbeitslosigkeit nicht bannt, wird das Gespenst des Faschismus an seine Seite treten.

Ich habe viel Kluges darüber gehört, wie man die EU den Bürgern „näher bringen“ (besser verkaufen) könnte: Natürlich sollte ihre Entscheidungsfindung transparenter sein; natürlich sollten ihre Akteure mehr demokratische Legitimation besitzen; natürlich sollte man ihre Abgeordneten in den nationalen Parlamenten anhören; natürlich sollte ihre Kommunikation verbessert werden.

Aber entscheidend ist das nicht. Auch ohne all diese Verbesserungen hielt sich der Zustrom zu Austrittsparteien in erträglichen Grenzen, solange die Arbeitslosigkeit in erträglichen Grenzen blieb. Seit der Pleite von Lehman Broth­ers und der ihr folgenden Wirtschaftskrise ist das endgültig nicht mehr der Fall. Die EU wird mit dieser Wirtschaftskrise identifiziert und durch sie diskreditiert.

Ein Vorwurf ist ihr freilich nur im Bereich der Kommunikation zu machen: Ihre Funktionäre waren und sind nicht imstande, der Bevölkerung zu erklären, wie ungerecht die Identifizierung von Krise und EU ist. Es ist blanker Unsinn, wenn Wirtschaftsfunktionäre behaupten, „über­­bordende Sozialleistungen“ oder „Schuldenmacherei“ hätten die Krise ausgelöst – die Volkswirtschaften der EU haben Defizite und Schuldenquoten von 1995 bis 2008 durchwegs verringert.

Auslöser der Krise waren die Schulden (Kredite) amerikanischer Bürger, die US-Banken in Aktien verpackten und US-Agenturen mit AAA-Ratings versahen. Von diesen toxischen Papieren haben Europas Banken um Milliardenbeträge 60 Prozent, US-Banken nur 30 Prozent gekauft. Wie wenig das mit der EU zu tun hatte, ersieht man daraus, dass Schweizer Großbanken unter den größten Käufern waren. Sie haben ihre gigantischen Verluste nur wegen ihres immensen Reichtums besser verkraftet.
In den USA ging Lehman Brothers an diesen Verlusten Pleite, und von Holland über Deutschland bis England wären Dutzende Großbanken daran Pleite gegangen, wenn die EU nicht eine konzertierte Banken-Rettungsaktion eingeleitet hätte. Aus dieser Jahrhundertleistung der EU, nicht aus ihren Fehlern resultieren die sprunghaft gestiegenen Staatsschulden.

Wenn die Grünen plakatieren, dass die EU Banken statt Menschen gerettet hätte, müsste ich das als Unverschämtheit kritisieren, wenn ich es nicht ihrer wirtschaftlichen Ahnungslosigkeit zuschriebe. Die EU hat Europa vor einer Depression nach dem Muster von 1930 bewahrt.

Natürlich konnten manche Volkswirtschaften – voran die deutsche – diese Bankenrettung besser verkraften als solche, die von vornherein Achillesfersen aufwiesen, wie Frankreich mit seinen hohen Lohnkosten oder wie England, das kaum mehr Industrie besitzt. Natürlich erschwert „Reformstau“ die Bewältigung der zitierten Ausnahmesituation allenthalben. Doch es sind die nationalen Regierungen, denen dergleichen anzukreiden ist.

Die EU hat zur Krise ausschließlich im „Süden“ beigetragen: Sie hat nicht vorhergesehen, dass die durch den gemeinsamen Euro verbilligten Kredite die Bevölkerung zu einem Kaufrausch auf Pump verführen würden; und sie hat erst jetzt, mit „Bankenunion“ beziehungsweise „Bankenaufsicht“ Instrumente geschaffen, dergleichen vorzubeugen.

Dennoch wäre die Bankenkrise der vergleichsweise kleinen südlichen Volkswirtschaften ohne die aus den USA importierte Wirtschaftskrise des Nordens relativ einfach zu lösen gewesen: durch die richtige Mischung aus Krediten und Zwang zu Reformen.
Diese richtige Mischung hat die EU – hat Angela Merkel – meines Erachtens nicht gefunden: Ihr so massiver Tritt auf die Bremse musste die Länder des Südens schleudern lassen. Zumal sie gleichzeitig auch alle anderen Länder zu einem Sparpakt vergatterte, sodass Europas Absatzmarkt schrumpfen musste.

Ich halte das für einen volkswirtschaftlichen Kardinalfehler, weil unmöglich mehr verkauft werden kann, wenn weniger eingekauft wird.
Obwohl sich jede Volkswirtschaft irgendwann erholt, wird Jean-Claude Juncker nur dann absehbaren Erfolg haben, wenn es ihm gelingt, Merkel zur Korrektur dieses Fehlers zu überreden. Die Alternative ist griechische „Morgenröte“ EU-weit.

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