Peter Michael Lingens: Moral ist relativ

Peter Michael Lingens: Moral ist relativ

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Es gibt gelegentlich Kommentare, von denen man sich wünscht, dass man sie selbst geschrieben hätte (ja sich vorwirft, sie nicht geschrieben zu haben), weil sie so notwendig sind. Einer davon ist Christian Rainers jüngster Leitartikel über die Relativität moralischen Handelns im Verlauf der Zeit: Im August war es hoch anständig, dass Angela Merkel ein paar tausend Flüchtlinge, die an der griechisch-mazedonische Grenze im Regen festsaßen, in Deutschland willkommen hieß - es ist dennoch nicht unanständig, dass sie die Kriterien für die Aufnahme von Flüchtlingen in den letzten Monaten massiv verschärft hat und dass Österreich das Gleiche tut. Denn es war nicht vorherzusehen, dass der Flüchtlingsstrom zu einer Flüchtlingsflut ausarten würde, weil die „sozialen Medien“ Merkels Aussage auf groteske Weise übertrieben und mit Schallgeschwindigkeit über tausende Kilometer hinweg transportierten: Deutschland „wünsche sich drei Millionen syrischer Flüchtlinge“ aufzunehmen; jeder von ihnen erhielte „sofort eine eigene Wohnung“; dazu „5000 Euro auf die Hand.“

(Wohl aber war der „Flüchtlingsstrom“ vorherzusehen – ich habe an dieser Stelle vor einem Jahr einen Flüchtlings-Minister gefordert.) Es war unanständig, dass Viktor Orban Flüchtlinge schon im September fast reflektorisch und in Wahrheit fast unterschiedslos aussperrte – obwohl mittlerweile so gut wie alle Staaten den Flüchtlingsstrom energisch filtern. (Für Orban bleibt charakteristisch, dass er am liebsten keinen einzigen Flüchtling aufnähme, obwohl Österreich 1956 mehr als 180.000 Ungarnflüchtlinge aufgenommen hat.) Ob etwas „anständig“ und/oder „richtig“ oder „unanständig“ und/oder „falsch“ ist, ist eine ungemein diffizile Frage, die sich nur im Rahmen des Zeitablaufs und in Zusammenhang mit allen Begleitumständen beurteilen lässt. Wobei man sich dessen bewusst sein sollte, dass sich auch das eigene Urteil darüber als falsch herausstellen kann.

Übertragen auf die „Moral“: Wir dürfen nie aufhören, zu versuchen, uns so moralisch wie möglich zu verhalten.

Ich erinnere mich diesbezüglich immer der Worte Karl Poppers: Wir könnten nie mit Sicherheit wissen, ob selbst das, was wir sicher zu wissen glauben, „wahr“ ist; wir haben nur die Pflicht von widerlegten Thesen abzurücken; und wir dürfen nicht aufhören, die Wahrheit zu suchen.

Übertragen auf die „Moral“: Wir dürfen nie aufhören, zu versuchen, uns so moralisch wie möglich zu verhalten. Meine Mutter hat auf eindringliche Weise erlebt, dass auch diese noch so ehrliche Suche keine eindeutig „anständige“ Lösung kennt: Als Fleckfieber in Auschwitz zeitweise mehr Menschen hinwegraffte, als ins Gas geschickt wurden, plädierte sie als Häftlingsärztin dafür, der Lagerleitung die bis dahin ängstlich verschwiegene Krankheit zu melden, weil nur großflächige Desinfizierung sie eindämmen könne - obwohl sie das Risiko kannte, dass die SS daraufhin alle Kranken sofort ins Gas schicken würden. Ihre französische Kollegin plädierte dagegen, weil auf diese Weise erstmals Häftlinge für den Tod von Mithäftlingen verantwortlich werden könnten. Eine Mehrheit der Häftlinge stimmte dem zu - die Meldung unterblieb und das Sterben ging weiter. Bis die Seuche auch die SS erfasste: Darauf schickte SS-Arzt Josef Mengele die Belegschaft eines „Blocks“ komplett ins Gas, desinfizierte ihn und konnte so die jeweils entlauste Belegschaft des nächsten Block dorthin übersiedeln. Rein rechnerisch hat er damit viele tausend Leben gerettet.

Hatte meine Mutter Recht? Die Französin Unrecht? Ich glaube nur eines zu wissen: Hätte er nicht eingegriffen, so hätten die Häftlinge zweifellos irgendwann den Vorschlag meiner Mutter für richtig befunden und die französische Kollegin hätte ihn nicht mehr verworfen. Was richtig und anständig ist, ist eine Funktion der Zeit.

Selbst die Antwort auf die Frage, wie weit man in der Darstellung des Flüchtlingsproblems differenzieren kann, soll oder muss, erweist sich als relativ: Sie hängt vom Publikum ab.

Ich verlege im Hauptberuf eine Zeitschrift für Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren. Dort vergeht zwischen Schreiben und Drucklegung ein guter Monat und man muss denkbar klar und einfach formulieren. Also habe ich den Jugendlichen schon im September die harte Wahrheit zugemutet, dass wir „in Zukunft zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Flüchtlingen gemäß der Genfer Konvention unterscheiden müssen“ - obwohl einem auch Wirtschaftsflüchtlinge leid tun sollen.

Im profil, wo ich ungleich mehr Zeit und die Möglichkeit zu ausführlicher Differenzierung hatte, konnte ich auf der Suche nach der anständigsten Lösung hinzufügen, dass ich es für richtig halte, Bestimmungen zu schaffen, die auch Wirtschaftsflüchtlingen eine Möglichkeit der Zuwanderung eröffnen.

Selbst die Antwort auf die Frage, wie weit man in der Darstellung des Flüchtlingsproblems differenzieren kann, soll oder muss, erweist sich als relativ: Sie hängt vom Publikum ab.

Mit Christian Rainer glaube ich, dass die Integration von Millionen noch so berechtigten Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak eine unendlich schwierige Jahrhundertaufgabe darstellt. Ich bin nur unter denen, die diesbezüglich Optimismus verbreiten wollen: Österreich hat nach dem Bosnienkrieg ca. 90.000 Bosnier erfolgreich integriert, obwohl sie in ihrer Mehrheit ebenfalls kein Deutsch sprachen, nur Pflichtschulabschlüsse hatten und Moslems waren.

Auf Deutschlands Bevölkerungszahl übertragen entspräche das 900.000 Syrern, Irakern oder Afghanen, die man aufnehmen könnte. Aber natürlich ist mir bewusst, dass der bosnische Islam ein besonders toleranter ist: In Sarajewo lebten die Religionen vor dem Krieg aufs friedlichste zusammen - was man von Bagdad schwer und von Kabul sicher nicht sagen kann. Aber die meisten Flüchtlinge wollten eben diesem intoleranten Islam entkommen. Niemand kann derzeit sicher wissen, welchen Islam sie in Europa verbreiten werden. Wie wir richtig oder falsch damit umgehen. Wir können einmal mehr nur versuchen, so richtig/anständig wie möglich damit umzugehen.

Auch die Zumutbarkeit der Aufnahme von Flüchtlingen ist relativ und eine Funktion der Zeit.

Vor allem ist mir bewusst, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse seit dem Bosnienkrieg in allen Ländern mit Ausnahme Deutschlands dramatisch verändert haben: In fast allen ist die Arbeitslosigkeit gestiegen und steigt weiter; und selbst in Deutschland fühlen sich mäßig qualifizierte Arbeitnehmer von ihr bedroht. Für Österreich (und die meisten anderen) gilt eine harte Wahrheit aus meinem letzten Kommentar: Jeder Flüchtling wird unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen „entweder arbeitslos sein oder einen Österreicher in die Arbeitslosigkeit drängen“.

Auch die Zumutbarkeit der Aufnahme von Flüchtlingen ist relativ und eine Funktion der Zeit.

Allerdings sind die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht Gottgegeben, sondern wurden durch die Finanzkrise geschaffen und meines Erachtens durch den „Spar-Pakt“ von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble „verschlimmbessert“. Aus grundanständigen Motiven – aber wie ich meine auf der Basis grundfalscher ökonomischer Überlegungen.

Ich bin gespannt, wie viel Zeit vergehen muss, bis sich diese meine Ansicht durchsetzt.