Peter Michael Lingens: Neapel sehen und staunen!

Peter Michael Lingens: Neapel sehen und staunen!

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Wenn Sie noch nicht wissen, welche Sehenswürdigkeit Sie heuer im Sommer besuchen sollen, empfehle ich Neapel. Sie unterstützen ein Land, das dank Sparpakt schon wieder in der Rezession steckt, und erfahren, dass Italiens Süden für den Fortschritt nicht ganz so verloren ist, wie deutschsprachige Medien suggerieren.

Neapel sehen und sterben“ war zwar nie meine Absicht – aber sie hat etwas für sich. Ursprünglich wollte ich mit 80 – wenn der Tod in greifbare Nähe rückt – nach Venedig übersiedeln und mir dort für den Wert meines Hauses in Spanien ein Apartment kaufen. Denn in Spanien scheint zwar auch die Sonne, aber sie wärmt mir das Herz nicht so wie Italien. Und mein spanisches Haus hat zwar zahllose Baumängel – aber nur in ­Venedig ist der Verfall von Häusern so schön, dass er auch den eigenen Verfall in milderem Licht sehen lässt.

Schon mein Vater war dieser morbiden Schönheit Italiens verfallen: Er ist so oft er nur konnte hingefahren, und dass er in den USA gestorben ist, war ein reiner Betriebsunfall. Sein ältester Bruder heiratete eine Italienerin und ließ sich mit ihr an der Costiera Amalfitana nieder. Sein jüngster Bruder ist dort begraben.

Ich setzte mit dem Tod in ­Venedig also durchaus eine familiäre Tradition fort. Nur dass ich seit voriger Woche nicht mehr sicher bin, ob ich es nicht vorziehe, in Neapel auf ihn zu warten. Denn Venedig erscheint mir plötzlich nur mehr als das schönste Museum der Welt. Neapel aber ist genauso voll von Kunst und Geschichte, aber es wurde ob dieser großen Vergangenheit nicht einbalsamiert: Es ist eine pulsierende Metropole mit circa einer Million Einwohner, die jünger als in allen andren italienischen Städten sind. Ich glaube fast: In Neapel wollte ich nicht sterben, sondern leben.

Dabei musste ich beim Betreten festgefügte Vorurteile überwinden. Als mir der Taxichauffeur für die Fahrt vom Flughafen das Doppelte des Tarifs verrechnen will, rührt er damit die Erinnerung an Dutzende Illustrierten- und TV-Berichte auf, deren Inhalt sich auf drei Worte reduzieren lässt: Armut, Mafia und Müll. Doch in sieben Stunden Autofahrt kreuz und quer durch Neapel habe ich nur in den ärmsten Vierteln etwas Müll gesehen. Diese Viertel gibt es zwar – nur sind es keine Viertel, sondern schrumpfende Vierzigstel. Ihnen stehen wachsende „Reichenviertel“ gegenüber, die Wiens Bezirke Hietzing oder Döbling zu Schrebergartensiedlungen degradieren: In sanfte Hügel gebettete Ketten architektonischer Juwelen, wie es sie in Wien nur gerade als zentrale Solitäre gibt. Vor allem aber kenne ich keine andere Millionenstadt, die über eine so prachtvolle „breite Masse“ wie Neapel verfügt: die Wiener City mal 40.

Durchwegs mehrstöckige Gebäude mit meist ockerfarbenen oder sienaroten, stets aber reich gegliederten Fassaden ergeben ein einheitliches Stadtbild, obwohl Renaissance und Barock sich munter mit Klassizismus und Jugendstil mischen. Denn die durchwegs sehr hohen Fenster mit ihren dunkelgrünen Jalousien und reich verzierten schmiedeeisernen Brüstungen legen sich als gemeinsames südliches Muster darüber.

Natürlich sind viele dieser Fassaden brüchig und es blättert wie in Venedig die Farbe ab – aber anders als in Venedig werden zahllose Fassaden renoviert und neu gestrichen Es gibt eine Menge private und öffentliche Baustellen. Beim fortgesetzten Bau der U-Bahn ist man ständig auf weitere römische und griechische Überreste gestoßen, die man jetzt freilegt und zu Museen gestaltet. Vor allem aber hat man die neuen U-Bahn-Stationen selbst zu Museen gemacht: Top-Designer wurden eingeladen, jede Station nach ihrer Vorstellung zu gestalten, was zwar manchmal kitschig, aber gelegentlich atemberaubend ausfiel.

Die U-Bahn von Neapel ist mit Sicherheit die attraktivste der Welt. Ein Fahrschein kostet übrigens nur einen Euro, die Jahreskarte 235 Euro.

An der Menge der Rolltreppen und des verbauten Steins und Glases gemessen, müsste die Camorra am Bau dieser U-Bahn Milliarden verdient haben. Aber ich bin auf keinen neueren diesbezüglichen Hinweis gestoßen.

Denn seit 2011 wird Neapel von dem ehemaligen Staatsanwalt Luigi de Magistris regiert, der im Kampf gegen Mafia und Korruption groß geworden ist. Als ihn ein „Disziplinarsenat“ 2008 nach Ermittlungen gegen prominente Politiker der Forza Italia wegen angeblich ungesetzlicher Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in den Richterstand versetzte, kandidierte er auf der Liste der Partei Italia dei Valori des Staatsanwalts Antonio Di Pietro fürs ­Europaparlament und gewann ein Mandat. 2011 trat er als Spitzenkandidat eines linksliberalen Parteibündnisses zur Kommunalwahl in Neapel an und wurde nach einer Stichwahl zu dessen Bürgermeister.

Zurzeit plant er, in einer – durch schrottreife Industrieanlagen verunstalteten – Bucht von Neapel ein super­modernes Wohn- und Businessviertel mit Blick auf den Vesuv zu errichten. Damit will sich die Stadt endgültig als Design-Zentrum etablieren.

Vielleicht verstehen Sie, dass ich mir das mit 80 nicht entgehen lassen möchte.