Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Was kann „Charisma“?

Was kann „Charisma“?

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Zufällig hat einer meiner ältesten Freunde bis vor wenigen Wochen in Belgien gelebt. Er vermochte über die allgemeine Häme zur Wahl des belgischen Regierungschefs Herman Van Rompuy zum Präsidenten des Europäischen Rats nur den Kopf zu schütteln: Immerhin habe der es innerhalb eines einzigen Jahres geschafft, den hochexplosiven Konflikt zwischen Flamen und Wallonen zu beruhigen. Die Belgier würden ihm nachweinen. Er wüsste nicht, von welchem Österreicher er das sagen könnte.

Dafür wissen Österreichs Zeitungen alles über Van Rompuy: ein „Leichtgewicht“ („Österreich“), ein „Nichts“ (die „Krone“). Und selbst im „Standard“ attestiert Thomas Mayer der EU mit Van Rompuy und Catherine Ashton als „Außenminister“ einen denkbar schwachen Beginn. Ich weiß nicht, wie er sich den „Ratspräsidenten“ vorgestellt hat. Am ehesten kann man ihn einem Nationalratspräsidenten in Vertretung des Bundespräsidenten vergleichen: Er soll die EU repräsentieren, Sitzungen leiten, dem Parlament berichten – eigene Kompetenzen von Gewicht hat er nicht.

Das ist kein Versehen, sondern gewollte Konstruktion: Die EU ist eben längst kein Bundesstaat – weder die 27 Staatschefs noch deren Wähler wollen von Brüssel regiert werden. England träte wahrscheinlich aus, wenn Van Rompuy größere Kompetenzen hätte, und will vermeiden, dass er auch nur größere moralische Autorität gewinnt.
Deshalb war klar, dass kein starker Vertreter eines großen Landes Ratspräsident werden konnte, sondern dass man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen würde.

Nur muss sich der keineswegs zwingend als „Leichtgewicht“ herausstellen: Der unbedeutende Habsburger Rudolf I. wurde nur deshalb König des Römisch-Deutschen Reichs, weil die Kurfürsten ihn für schwach hielten und das politische Schwergewicht Ottokar von Böhmen unbedingt vermeiden wollten. Gott sei Dank – denn Rudolf scheint der weit vernünftigere Herrscher gewesen zu sein.

Van Rompuy wird zwar nie herrschen können, wohl aber kann er Statur und Autorität gewinnen: indem er Sitzungen geschickt leitet, Auseinandersetzungen rechtzeitig beruhigt und Kompromisse zu finden hilft. Genau das hat er in seiner Antrittsrede in Aussicht gestellt.
Von vornherein Statur hätte zweifellos Luxemburgs Staatschef Jean-Claude Juncker besessen: Niemand plädiert brillanter für eine stärkere EU. Aber genau das wissen auch die Engländer, die genau das nicht wollen. So wie der Rest der EU Tony Blair nicht will.

Van Rompuy ist zwar ein deutlich leiserer Mensch – dass er deshalb keine Autorität zu erringen vermag, hat er in Belgien widerlegt.
Kritischer als seine Kür ist die Kür Catherine Ashtons als „Außenminister“, denn auch wenn sie das nicht ist, hat sie doch Kompetenzen: Sie wird einen Apparat haben und soll Stellungnahmen abgeben. Die müssen freilich im Einklang mit der Haltung der Staatschefs stehen, und die ist in vier von fünf Fällen unterschiedlich. Daher ist ihre Aufgabe in vier von fünf Fällen unerfüllbar – es kommt darauf an, dass sie die eine erfüllbare erfolgreich bewältigt. Dafür hätte man sich zweifellos eine außenpolitisch erfahrenere Frau gewünscht – sowohl Ursula Plassnik wie Benita Ferrero-Waldner wären das gewesen –, aber Österreich hat beide bekanntlich kaum unterstützt. Für Frau Ashton spricht, dass sie die Fahne der EU im EU-kritischen England ähnlich energisch wie Plassnik gegen die „Krone“ hochgehalten hat.
Dass Tony Blair an ihrer Stelle ein „Schwergewicht“ ­gewesen wäre, steht außer Zweifel – nur hat seine bedingungslose Liebe zu den USA zu schwer gewogen.
Sowieso kann es keinen gewichtigen EU-Außenminister geben, solange es keine gemeinsame EU-Außenpolitik gibt, und die wird noch lange an England scheitern.

Ob die Spitzen der EU, wenn schon nicht schwergewichtig, dann wenigstens charismatisch sein sollten, möchte ich schon um der Provokation willen infrage stellen. So hat es an der Spitze der USA kaum jemand Charismatischeren als John F. Kennedy gegeben: Innenpolitisch hat er nichts bewirkt; außenpolitisch hat er das verdeckte militärische Engagement in Vietnam so weit vorangetrieben, dass es in einen Krieg münden musste, und in der Schweinebucht ist er vor Kuba jämmerlich baden gegangen.

Sein restlos uncharismatischer Nachfolger, Lyndon B. Johnson, hat zwar den Vietnamkrieg in einen offiziellen Krieg umgewandelt, aber innenpolitisch war er der wichtigste US-Präsident nach dem Krieg: Er führte fast alles ein, was die USA bis heute an Sozialgesetzgebung haben, und unter seiner Regierung wurde jene Gleichberechtigung der Schwarzen in Angriff genommen, die heute Barack Obama ermöglicht.
Womit wir beim zweifellos charismatischsten Staatsführer der Gegenwart wären, dessen bisherige Bilanz mein Kollege Hoffmann-Ostenhof vorige Woche in Angriff genommen hat: Israel hat nur gerade die Ausweitung seines Siedlungsbaus auf dem Areal eines künftigen palästinensischen Staats eingebremst. Ich füge an: Der Iran bastelt weiter unbeirrt an
der Atombombe. Die Gesundheitsreform droht eine Missgeburt zu werden – und ist noch immer nicht auf der Welt.
Ich will nicht behaupten, dass ein weniger charismatischer Präsident diese Probleme besser gelöst hätte – aber viel schlechter gelöst hätte er sie wohl auch nicht, wenn es nicht gerade George W. Bush gewesen wäre.
Man gebe auch leisen Politikern ihre Chance.

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