Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Was wird aus HPM?

Was wird aus HPM?

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Einige Zeitungen rätseln, warum „linke“ Parteien bei der EU-Wahl so viel schlechter als „Volksparteien“ abgeschnitten haben, obwohl der „Neoliberalismus“, der uns die aktuelle Krise beschert hat, doch zur Rechten angesiedelt sei. Doch das trifft für Europa nicht zu. Die aktuelle Krise wurde nicht durch Europas Volksparteien, sondern ausschließlich durch George Bush und Alan Greenspan herbeigeführt. Allerdings hat es in der EU mehrere Initiativen gegeben, die eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte zum Ziel hatten und uns besser vom US-Desaster abgekoppelt hätten, wenn sie erfolgreich gewesen wären. Doch sie scheiterten am Widerstand der britischen Labour Party, die sich voll mit Greenspans Deregulierungswahn identifizierte und dabei die längste Zeit auf die Unterstützung durch die SPD Gerhard Schröders zählen durfte. Die Mega-Schlappen von SPD und Labour entsprachen also durchaus höherer Gerechtigkeit.

Einigkeit herrscht bezüglich der anderen Charakteristika dieser Wahl: „Wenig Interesse – viele Denkzettel“, resümierte der „Kurier“. Das eine ist eine zwingende Folge des anderen: An Wahlen, die wenig Interesse wecken, nehmen überproportional solche Wähler teil, die jemandem – sei es der EU, sei es einer Regierungspartei – einen Denkzettel verpassen wollen. Das droht auch künftig so zu sein: Wahlen mit nur 40 Prozent Beteiligung werden zunehmend EU-Kritiker ins EU-Parlament befördern bzw. zu innenpolitischen Abrechnungen am falschen Ort verkommen.

Über die Ursache der geringen Wahlbeteiligung gehen die Ansichten auseinander. Ich meine, dass die Wähler nicht erkennen, was sie bei EU-Wahlen mit ihrer Stimme bewirken. Christian Rainer meint, dass „jeder Staatsbürger“ eben dies „wie selten zuvor“ erkennen kann: „Wer wie Lingens meint, man könne kaum erkennen, was man mit seiner Stimme bewirkt, der lebt offensichtlich in einem fremden Land. Genau das stimmt bei Lingens: Er lebt seit Jahren in Spanien.“ Das stimmt zwar nicht mehr ganz, denn ich lebe seit ­anderthalb Jahren vorwiegend in Wien, aber Rainer hatte Recht, seine Leser aufzufordern, dringend ihrer Wahlpflicht nachzukommen, während ich ihnen eine Ausrede fürs Nichtwählen an die Hand gegeben habe.

Trotzdem bleibe ich dabei, dass der unklare Zusammenhang zwischen Stimmabgabe und EU-Politik der wesentlichste Grund des Desinteresses an diesen Wahlen war: Die Wahlbeteiligung ist ja nicht nur in Österreich, sondern EU- weit bei nur 40 Prozent gelegen. Deshalb plädiert etwa Deutschlands CDU-Vordenker Wolfgang Schäuble wie ich für Wahlen, die voran die Bestellung des Kommissionspräsidenten zum Gegenstand haben. Zu diesem Zweck würden die Wahllokale weit häufiger aufgesucht, und wer sie einmal betritt, würde wohl auch seine Abgeordneten ankreuzen.

Hans Peter Martin anzukreuzen war nach meiner eigenen Analyse falsch: Er ist zweifellos ein Gegner „dieser EU“. Allerdings – und das macht es doch um einiges komplexer – ist er ein überzeugter Anhänger der europäischen Einigung und träumt von einer EU mit ungleich stärkeren Kompetenzen in zentralen Bereichen. Das unterscheidet ihn diametral von H. C. Strache, dem die EU gar nicht schwach genug sein kann, und verbindet ihn mit mir.
HPMs und mein Ideal eines geeinten Europa sind durchaus ähnlich, sodass ich mich nicht wirklich für seine Wahl geniere. Zumal ich seine Kritik an der Selbstbedienungsmentalität abgehobener EU-Funktionäre für unverzichtbar halte. Seine Wähler dürften ihn freilich fast nur in dieser Rolle schätzen. Hätten sie ihr Kreuz nicht bei ihm, so hätten sie es wohl bei der FPÖ gemacht. So ist deren Erfolg weit unter den Erwartungen geblieben, was man wohl als „Kollateralnutzen“ verbuchen kann.

Was mich so entschieden von Martin trennt, ist sein voreiliges Credo, dass „diese EU“ nicht mehr zu retten ist. So gesteht er mir zwar zu, dass der Vertrag von Lissabon eine Reihe von Fortschritten mit sich brächte, meint aber dennoch, dass es falsch wäre, die EU-Verfassung mit ihm zu flicken, statt sie auf völlig neue Beine zu stellen. Das erinnert mich ein wenig an Karl Marx, der die Gewerkschaften ablehnte, weil ihre Erfolge die Risse im kapitalistischen System verkitten und so dessen Untergang hinauszögern könnten.

Ob es aus diesem Grunde wirklich ein Fehler war, HPM zu wählen, wird für mich von seiner Reaktion auf den Erfolg abhängen. Er ist, wie einst Alfred Worm, ein „Aufdecker“ und Kritiker aus Leidenschaft, und es braucht solche Leute. Aber sie laufen Gefahr, dass diese Leidenschaft sich selbstständig macht und sie vergessen lässt, zu welchem Zweck sie kritisieren. Dann kann sehr leicht persönliche Eitel­keit zum Endzweck werden. Der Standort des einsamen Wolfs wird zum Podest, auf dem man sich einzementiert. Ich gebe mich der vielleicht trügerischen Hoffnung hin, dass HPM diese Gefahr erkennt und „offen“ bleibt. Schließlich wird es im neuen EU-Parlament verwandte Seelen geben, mit denen er sich zusammentun und so an Einfluss ­gewinnen kann.

Diesen Einfluss kann er verantwortungsvoll oder verantwortungslos gebrauchen. Verantwortungslos wäre für mich: die bestehende EU kaputtzukritisieren, ohne dass es eine realistische Alternative gibt. Verantwortungsvoll wäre: zu prüfen, ob unter den sich ändernden Bedingungen nicht sehr wohl eine ernsthafte Chance zur Reform „dieser EU“ besteht.

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