Politik ist ein Handwerk, kein Mundwerk
An Krisen mangelte es nicht: Seuchen, Kriege, Naturkatastrophen – gefühlt mehr Mittelalter als moderne Gegenwart. Archaische Ängste sind nicht nur ein Nährboden für Extreme, sie verkürzen auch Amtszeiten, beschleunigen politische Wechsel und erschweren tragfähige Mehrheiten und langfristiges Denken. Statt mehr Gemeinsinn fördert Angst Egoismus – auch politisch.
Krisen sind Zeiten der Sündenböcke. Schuldige werden gesucht, gejagt, verdammt. Wenn schon keine Hoffnung, dann wenigstens Bestrafung. Erlösungsangebote kommen über postsoziale Medien: Heilsfiguren, die mit digitaler Nähe locken und mit dem digitalen Zauberstab jeden Zielkonflikt für einen Moment wegwischen. Auf den Titelseiten der Wirtschaftsmagazine posieren daneben „Manager des Jahres“, die das Unmögliche möglich machen – bis zum Absturz, weil schillernde Flügel doch nur wächsern verbunden sind. Megapleiten und Betrugsskandale sind die umgekehrte Rache der Realität am Archiv des Journalismus der Superlative.
Die vom Journalisten Christoph Kotanko einmal gestellte Frage „Zählt das Erreichte oder reicht das Erzählte?“ scheint längst beantwortet. Atemlosigkeit ersetzt Faktencheck. Eine Mikrokampagne jagt die nächste, Leuchtrakete folgt auf Leuchtrakete. Und am Tag danach? Zerfetzte Feuerwerksreste haben an jedem Neujahrstag etwas Jämmerliches. Die Politikwegwerfgesellschaft scheint auf dem Höhepunkt.
Interessant ist der Vergleich der Wunderknaben mit den Wonderwomen der vergangenen Jahre – Jacinda Ardern (Neuseeland), Nicola Sturgeon (Schottland), Sanna Marin (Finnland), Angela Merkel (Deutschland) oder aktuell Ursula von der Leyen (EU). Sie verzichten auf Drama am Weg hinauf und am Weg hinaus. Macht geht offenbar auch ohne Genialitätsverdacht gegen sich selbst, ohne permanente Überinszenierung und ohne die Sehnsucht nach Denkmälern. Auch im Wirtschaftsbereich geht es für die Top-Managerin ohne Museen der eigenen Hybris.
Politisch herrscht angesichts so viel Hyperventilation im Superlativ ein Strategiemangel bei gleichzeitigem Taktiküberschuss. Gerade jetzt aber bräuchte es Ruhe und Weitsicht. Und doch gibt es sanfte Hoffnungssignale: Der Start der „Das-kann-ja-nie-funktionieren“-Koalition wirkt überraschend. Vor allem die zwei meistunterschätzten und zentralsten Akteure, Bundeskanzler Christian Stocker und Finanzminister Markus Marterbauer, zeigen Pragmatismus, Klarheit und Teamgeist.
In schwieriger Ausgangslage, unter Zeitdruck und mit innerparteilichen Rissen haben sie einen Budgetprozess orchestriert, der diszipliniert und ohne mediale Querschüsse verlief. Auch die sonst üblichen Ablenkungsmanöver blieben aus. Keine Leuchtraketen, kein flooding the zone … Man regiert offenbar miteinander, nicht gegeneinander, mit einem gemeinsamen Ergebnis, getragen vom Bemühen um fair verteilte politische Lasten.
Dass dabei in der Sache dennoch sozial Schwächere und das Klima stärker unter die Räder kamen, ist ein anderes Kapitel. Dennoch: Was sich hier an politischer Kultur entwickelt, verdient Respekt. Und wir erleben den womöglich uneitelsten Kanzler seit Jahrzehnten, einen soliden Handwerker der Politik. Max Weber beschrieb Politik in seinem Klassiker „Politik als Beruf“ (1919) ja als „starkes, langsames Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß“.
Die großen Reformbaustellen sind noch nicht angegangen. Wenn dieses Budget ein Gesellenstück war, dürfen wir auf ein Meisterstück zumindest hoffen.
Die Bedingungen für echte Strukturreformen sind jedenfalls gut wie selten: hoher finanzieller Druck auf allen Ebenen, schwächelnde Machtzentren in den Ländern mit bevorstehenden politischen Generationenwechseln, keine Wahlen für zweieinhalb Jahre.
Eine Bundesregierung wird das aber nicht allein stemmen. Jetzt ist nicht die Zeit fürs Kommentieren oder Jammern. Viele Institutionen müssen sich bewegen. Wir könnten proaktiv damit beginnen. Erfolgreich Regieren ist Teamwork über die Regierung hinaus, und vielleicht greift die Erkenntnis, und wir machen uns gemeinsam ans Werk. Politik ist im Kern ein Handwerk, kein Mundwerk.