Satire

Fortschritt!

Die Stärke der Linken ist es bekanntlich, das Ohr immer nah an den Bedürfnissen des Volkes zu haben.

Drucken

Schriftgröße

An den amerikanischen Unis eskalieren die Proteste gegen den Gazakrieg, an der Columbia University in New York wurden jüngst 100 Demonstranten festgenommen, jüdische Studenten wurden gewarnt, den Campus überhaupt zu betreten. Das ist eine sehr hübsche Entwicklung, wie ja insgesamt die Haltung der linken Bildungselite in dieser Frage sehr erfreulich ist. Und vor allem, wie es sich in diesen Kreisen gehört, so erfrischend divers.

Aber für aufgrund der schweren persönlichen Betroffenheit von jungen Weißbroten aus höherem Haus verständlicherweise emotional sehr aufgeladenen Spät-Antikolonialismus gibt es im Moment nun einmal hervorragende Haltungsnoten auf Social Media. Da darf das bisschen Antisemitismus nicht überbewertet werden. Und der ändert auch bitte schön rein gar nichts daran, dass sich die woke Neo-Linke bedingungslos der Toleranz verschrieben hat. Es ist immer noch voll okay, wenn du heute als bisexueller Birnbaum gelesen werden willst und morgen als genderfluider Hydrant. Wirklich! Solange du halt kein Jude bist. Und das ist ja für die meisten von uns zum Glück eh keine Einschränkung.

Das Neue an den amerikanischen Uni-Protesten ist aber ihre argumentative Untermauerung. Offenbar berufen sich die rabiaten Studenten gerne darauf, dass sie schließlich zur „Ivy League“ gehörten – also zu einer der elitärsten Privat-Unis wie Harvard oder eben Columbia – und somit ja wohl wüssten, was richtig und falsch sei. Weil eben: wahnsinnig gescheit. Also tut bitte gefälligst, was wir sagen.

Diese bescheidene Selbstbeschreibung und damit auch die daraus gezogenen Schlüsse sind fraglos richtig. Wer zum Beispiel als studierender „Queer for Palestine“ die Hamas-Flagge schwenkt, muss einfach einen höheren Durchblick besitzen, den die Natur wirklich nicht jedem schenken konnte. Und es steht ebenso unumstößlich fest, dass Paternalismus, vor allem einer qua selbst attestierter geistiger Überlegenheit, generell ein überragendes politisches Erfolgsrezept darstellt. Das sollte sich die Linke keinesfalls madigmachen lassen. Sie weiß da auch die Bevölkerung fest an ihrer Seite, wie nicht zuletzt die flächendeckende Begeisterung über die diversen Moral- oder Sprachregelungen beweist, die fortschrittlicherseits in den letzten Jahren so erlassen wurden.

Es ist halt nun einmal so, dass man die Leute manchmal auch ein bisschen zu ihrem Glück zwingen muss. Weil oft wissen die es ja nicht besser, die sind ja nur … Leute. Auf dieser grundlegenden Einsicht beruht ja zum Beispiel auch das österreichische Kammersystem. Quasi jeder gehört zu einer und finanziert eine mit, ob er will oder nicht. Und es ist nur zu seinem Besten! Umso bedauerlicher, dass die rote Präsidentin der Arbeiterkammer, Renate Anderl, nach Abschluss der AK-Wahlen in Ostösterreich nicht nur einen Rückgang in der Wählergunst verarbeiten musste, sondern auch einen – neuerlichen – in der Wahlbeteiligung. In Wien lag sie bei gerade noch 40 Prozent, in Niederösterreich und dem Burgenland überhaupt nur mehr bei einem Drittel. Damit nähert sie sich Sphären dieser österreichischen Spezialform der fast freiwilligen Repräsentativdemokratie, die bislang der Hochschülerschaftswahl vorbehalten waren. Dort fanden nur 21,2 Prozent der Studenten die ihnen großherzig zugestandene Zwangsmitgliedschaft auch großherzig genug, um wählen zu gehen. Ein Verhalten, das man schon als grob undankbar bezeichnen muss.

Eine ähnliche Undankbarkeit musste leider auch Präsidentin Anderl konstatieren. Man müsse die Menschen überzeugen, an der Demokratie teilzunehmen, meinte sie leicht tadelnd. Eine Ablehnung der Pflichtmitgliedschaft in ihrer SPÖ-Vorfeldorganisation konnte Anderl hingegen in der müden Beteiligung nicht erkennen. Wie denn auch.

Gegen Bevormundung allergisch ist hingegen die Wiener SPÖ, verständlicherweise aber vor allem gegen ihre eigene. Und die diesbezügliche Schwelle ist einigermaßen niedrig angesetzt. Stadtrat Peter Hacker, selbst bekanntlich einer der Leiseren, verbat sich jüngst polternd Zurufe, wie Wien seine offensichtlichen Probleme mit der hohen Zahl an Asylanten in der Stadt handhaben solle. Das tat er vor vier Jahren auch schon, als eine WIFO-Studie an sich nicht allzu Überraschendes zutage förderte: dass nämlich zahlreiche Asylberechtigte nach Wien übersiedelten, weil hier die Sozialleistungen am höchsten sind. Hacker damals nicht unschroff: „Ich brauche mich für nichts zu rechtfertigen, und Wien braucht sich für nichts zu rechtfertigen.“

Vier Jahre später lässt sich aber nun leider nicht mehr leugnen, dass der seit Jahrzehnten in Parteibesitz befindliche größte Teppich der Welt, unter den Probleme in Wien gewohnheitsmäßig verfrachtet werden, einem Dromedar ähnelt. Wien fordert jetzt auf einmal eine an sich voll unsoziale Wohnsitzauflage zur besseren Verteilung von Flüchtlingen, die Grünen lehnen aus ideologischen Gründen ab, die ÖVP aus sehr durchsichtigen parteitaktischen.

So. Und nun? Egal. Hauptsache, niemand ruft Hacker was zu.

Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz

Kolumnist im Österreich-Ressort