Rainer Nikowitz

Rainer Nikowitz Kalt-warm

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Der Vizekanzler hatte angesichts der Delikatesse der Situation nicht vor, irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Mit seiner perfekten Verkleidung, die aus einer roten Irokesen-Perücke und einer Sicherheitsnadel im linken Nasenflügel bestand, hätte er vor der Pizzeria Anarchia sofort den nächsten Polizeieinsatz ausgelöst. Sein Handy hatte Spindelegger nach dem Ministerrat in einem Moment, in dem niemand auf ihn geachtet hatte (ja, doch: solche Momente kamen häufiger vor, als man gedacht hätte), in die Sakkotasche von Werner Faymann gleiten lassen. Selbst die NSA würde sich also an seiner Ortung die Zähne ausbeißen – obwohl sich dort sicher eine 20 bis 30 Mann starke Unterabteilung ausschließlich damit befasste.

Michael verließ das Bundeskanzleramt im Kofferraum des Dienstwagens von Johanna Mikl-Leitner, weil er doch ziemlich stark von der Annahme ausging, dass gerade diesem niemand freiwillig folgen würde. Anschließend nahm er insgesamt fünf Taxis, von denen er zwei über weite Umwege wieder zu der Gasse zurück dirigierte, aus der er mit dem vorigen gekommen war. Einem Taxler trug er sogar listig auf, dabei im Rückwärtsgang zu fahren – eine Volte, mit der er noch den aufgewecktesten Sensationsreporter in die Irre geführt hätte. Dann durchquerte er ein Kellerlokal, das er seit dem letzten konspirativen Treffen der zu allem entschlossenen Wirtschaftsentfessler e.V. kannte, verließ es durch eine nur 80 Quadratzentimeter große Oberlichte am Damenklo wieder, um sich draußen sofort an der Unterseite eines in einer menschenleeren Sackgasse parkenden Gefahrengut-Transporters anzuklammern, bis dessen Fahrer mit seinen Verrichtungen im um die Ecke liegenden Laufhaus fertig war und seinen Weg Richtung slowakische Grenze fortsetzte. Nach etwa 30 Kilometern ließ sich Spindelegger bei einem unbeschrankten Bahnübergang von dem Lkw fallen und besprang den nächsten vorbeifahrenden Personenzug – was er völlig gefahrlos tun konnte, da dieser, wie die meisten Personenzüge in Österreich, vollkommen leer war. Wieder zurück in Wien versteckte sich Spindelegger schließlich im Biomüllcontainer eines vor dem Bahnhof stehenden Kebab-Standes, in dem er sicherheitshalber auch noch geschickt ein verschimmeltes Fladenbrot nachahmte, und wartete dort den Einbruch der Dunkelheit ab. Dann musste er nur noch acht Wiener Bezirke zu Fuß durchqueren – und schon war er da.

Er wusste nicht, was mehr klopfte. Sein Herz – oder doch der Knöchel seines rechten Zeigefingers, mit dem er zart den vereinbarten Code auf die rauen Bohlen der Pforte des klandestinen Vereinslokales tippte: den Rhythmus von „Kein Schwein ruft mich an“. Die Sekunden, die danach vergingen, fühlten sich an wie Ewigkeiten. In Michael stieg die Angst auf, schon wieder einmal abgewiesen zu werden, die Angst, draußen zu bleiben und somit auch der letzten Hoffnung auf Anerkennung und ja: auch so etwas wie einer Heimat Lebewohl sagen zu müssen. Dann endlich ging die Tür einen Spalt auf. Spindelegger erkannte sofort, wer ihm da geöffnet hatte: Albert Fortell. Der Charakterdarsteller sah den Vizekanzler mit jenem durchdringenden Clint-Eastwood-Blick an, der schon in „Schlosshotel Orth“ so manche Nagelstylistin zur Raserei gebracht hatte, nickte ihm dann stumm zu und trat zur Seite.

Der Raum war in nur schwaches Licht getaucht, aber dennoch konnte Spindelegger einige der hier Sitzenden sofort identifizieren. Birgit Sarata unterhielt sich angeregt mit Alexander Bisenz. Tony Rei zauberte auf dem Gesicht von Yvonne Rueff ein Lächeln hervor, etwas, das Gerald Pichowetz trotz größter Anstrengung bei Bambi Bruckner nicht und nicht gelingen wollte. Andi und Alex kochten offensichtlich gerade Stefanie Werger ein, während Karina Sarkissova von Toni Faber nur mit Mühe daran gehindert werden konnte, sich auszuziehen.

Der Vizekanzler konnte sich nicht erinnern, jemals eine derart schrankenlose Erleichterung verspürt zu haben. Endlich war er unter seinesgleichen – und somit willkommen.

Er konnte es sich jetzt selbst nicht mehr erklären, warum er sich so lange dagegen gewehrt hatte, sein Leid mit anderen zu teilen, denen es genauso ging – und sich lieber vor lauter Scham zu Hause eingesperrt hatte. Aber jetzt fühlte er, wie gut und richtig es war, hier zu sein. Bei den Parias unter den Promis. Bei jenen Ausgegrenzten, die zu einem Leben am Rande von Facebook verurteilt worden waren. Die trotz allen Bettelns, trotz aller ihrer „Gefällt mir!“ unter den unfassbar lustigen Videos ihrer sogenannten Freunde von niemandem erhört worden waren. Bei den armen Schweinen also, die noch immer niemand für die „Ice Bucket Challenge“ nominiert hatte.

Michael stürmte in die Mitte des Raumes. Er breitete seine Arme aus und rief: „Mein Name ist Michael – und ich bin heute das erste Mal bei den ‚Anonymen Nichtnominierten‘!“

Mit einem Schlag herrschte Stille. Alle Augen richteten sich auf den Vizekanzler. Und dann erklang warm und freundlich und wie aus einem Mund: „Hallo Michael!“

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Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz

Kolumnist im Österreich-Ressort