Robert Treichler

Robert Treichler Was die Hirnlosen treibt

Was die Hirnlosen treibt

Drucken

Schriftgröße

"Hirnlose Gewalt“ nennt der Londoner Bürgermeister Boris Johnson die Vorfälle der vergangenen Nächte in seiner Stadt, wo Hunderte Vermummte Häuser und Autos in Brand gesteckt, Läden geplündert, Passanten ausgeraubt und sich Gefechte mit der Polizei geliefert haben. Der Begriff "hirnlose Gewalt“ beschreibt einerseits mit dem angemessenen Unterton der Verachtung den Vandalismus und die Bedrohlichkeit der marodierenden Jugendlichen. Andererseits verweist er die Ursachen für die Verbrechen ins Irrationale, Unergründliche der menschlichen Natur. Eine denkbar unergiebige Erklärung.

Eine andere will die britische Regierung nicht hören. Wer Gründe nennt, die den Ausbruch der Krawalle begünstigt haben könnten, wird von den Konservativen scharf attackiert. Jenny Jones etwa, Mitglied der Metropolitan Police Authority, des Aufsichtsorgans der Londoner Polizei, sagte: "Kürzungen bei der lokalen Versorgung, besonders im Bereich der Jugend, spielten eine Rolle beim Entstehen von Spannungen.“ Solche Vorwürfe seien "politischer Opportunismus“, wetterte der Tory-Abgeordnete Patrick Mercer.

Die Gefahr von Krawallen sind Bestandteil einer nie ausgesprochenen Kosten-Nutzen-Rechnung bei Kürzungen von Sozialbudgets. Die Regierung unter David Cameron setzte sich bei Amtsantritt im Mai des vergangenen Jahres ein ehrgeiziges Ziel: eine Verringerung der Staatsausgaben von über 90 Milliarden Euro innerhalb von vier Jahren, davon mehr als 20 Milliarden bei Sozialausgaben. Was das bedeutet, erklärte Cameron damals so: "Es ist nicht möglich, solche Einsparungen zu machen, ohne bei Dingen zu kürzen, die wichtig sind.“ Und die konservative Abgeordnete Baronin Margaret Eaton präzisierte: "Das wird schmerzen. Wir wissen, das bedeutet weniger Bibliotheken; Parks, die früher schließen; Jugendclubs, die zusperren.“

Arme Familien mit Kindern sind nach Berechnungen des angesehenen Institute for Fiscal Studies die größten Verlierer des Sparprogramms. Beihilfen werden restriktiver vergeben oder gekürzt. Teenager, deren Eltern immer weniger Geld zur Verfügung haben und deren Jugendclub aus Geldmangel wegrationalisiert wurde, stehen jetzt auf der Straße herum. Die Gegenden in London, in denen der Aufruhr begonnen hat, sind jene mit den höchsten Raten von Beziehern von Arbeitslosenunterstützung.

Werden deshalb gleich alle kriminell? Natürlich nicht. Steigt die Wahrscheinlichkeit, dass mehr von ihnen asozial werden? Sicher.

Jeder Politiker muss wissen, dass drastische Kürzungen im Sozialbereich ebenso drastische Folgen haben können. Dieses Risiko war implizit Teil der Kalkulation der Budgetsanierung. Jetzt fallen die Kosten an, und sie sind erheblich. Der materielle Schaden in London, Birmingham, Manchester und anderen Städten ist riesig. Dazu kommt der Imageverlust der Hauptstadt, die im kommenden Jahr die Olympischen Spiele ausrichten soll.

In einem "Presse“-Leitartikel versucht Christian Ultsch, soziale Faktoren als marxistischen Kitsch abzutun. Seine alternativen Erklärungsversuche: 1. Die individuelle Eigenverantwortung der Täter. Diese ist unbestritten, nur beantwortet das die Frage nicht, weshalb plötzlich so viele junge Leute ohne Rücksicht auf die Folgen, die sie erwarten, Straftaten begehen. 2. Die Theorie der "zerbrochenen Gesellschaft“ des Politologen Philip Blond. Die 68er-Revolution habe alte Tugenden zersetzt; Marktkräfte hätten lokale Strukturen zerstört; der Wohlfahrtsstaat habe das soziale Prinzip gegenseitiger Hilfe ersetzt. Ungeklärt bleibt dabei, weshalb die Kinder der mittleren und oberen Schichten, die unter den scheußlichen Folgen der 68er-Bewegung und der anderen genannten Entwicklungen wohl ebenso zu leiden haben, nicht auch randalieren? Warum brechen Krawalle immer unter Unterprivilegierten aus, wenn die sozialen Umstände absolut nichts mit dem Phänomen zu tun haben? Warum Tottenham und nicht Notting Hill, warum die Pariser Banlieue und nicht das 16. Arrondissement?

Niemand kann ernsthaft behaupten, die Politik der Torys sei allein an der Misere schuld. Die jungen Leute, die in diesen Nächten Anarchie verbreiten, sind fast zur Gänze unter einer Labour-Regierung aufgewachsen. 13 Jahre lang, von 1997 bis 2010, regierten die Sozialdemokraten und versprachen etwa, die Armut von Kindern zu beseitigen - anfangs mit Erfolg, der später in Misserfolg umschlug.

Die Einsicht, dass aussichtslose Tristesse Gewalt erzeugen kann, ist übrigens keine linke Flause. Lord Harris of Peckham äußerte sich in der konservativen Tageszeitung "Daily Telegraph“ dazu. Er steht nicht im Verdacht, überbordende Sympathien für die Hooligans zu empfinden oder Utopien nachzuhängen. Er war einer der ersten britischen Geschäftsleute, die David Camerons Wahlkampf finanziell unterstützten, und eine Filiale seiner Teppich-Kette "Carpetright“ in Tottenham wurde in der Nacht auf Sonntag von Randalierern zerstört. Lord Harris sieht die Ursache der Gewalt in der Jugendarbeitslosigkeit: "Wenn man die Leute zum Arbeiten bringt, machen sie weniger Probleme. Ich hoffe, nach all dem wird die Regierung versuchen, mehr zu tun, um den jungen Leuten in diesem Land zu helfen.“

Denn wenn schon die Gewalt hirnlos ist, sollten die Maßnahmen der Regierung dagegen es nicht auch noch sein.

[email protected]