Rosemarie Schwaiger
Leitartikel

Rosemarie Schwaiger: So kann man nicht leben

Sebastian Kurz gefällt sich in seiner Rolle als Corona-Zuchtmeister. Aber auch er wird die Bevölkerung nicht endlos drangsalieren können.

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Es riecht schon wieder nach Lockdown. Wie Anfang März werden derzeit alle paar Tage die Maßnahmen verschärft. Wie damals kursieren alarmierende Prognosen, eilig werden Pressekonferenzen einberufen; der Bundeskanzler spricht von notwendigem Verzicht und bevorstehenden Entbehrungen. Die Corona-Ampel existierte im Frühling zwar noch nicht, aber sie wurde von der Politik ohnehin zum Scherzartikel degradiert. Ob ein Bezirk gerade grün, gelb oder wie auch immer blinkt, spielt keine Rolle. Ganz Österreich befindet sich im Alarmzustand, weil die Regierung – respektive das Kanzleramt – es so beschlossen hat.


Niemand wolle einen zweiten Lockdown, heißt es reihum. Aber noch weniger will Sebastian Kurz sein Image als furchtloser Virusbekämpfer verlieren. Sollte nach der  jüngsten Dramatisierung die Zahl der Neuinfektionen nicht bald sinken oder gar weiter steigen (wonach es eher aussieht), wird dem Kanzler nichts anderes übrig bleiben, als das Land wieder zuzusperren. Andernfalls könnte sich ja der Verdacht erhärten, dass es schon beim ersten Mal nicht notwendig war.


Wer an einer Neuauflage des kollektiven Ausnahmezustands samt Totalschaden der Wirtschaft schuld wäre, ist zum Glück auch schon geklärt: Es sind all jene Bürger, die sich den Anordnungen der Politik widersetzen. „Der Weg von der Hirnlosigkeit weniger zur Arbeitslosigkeit vieler ist ein kurzer“, diagnostizierte jüngst Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer sympathisch und einfühlsam, wie man ihn kennt. Immerhin war schon länger nicht mehr von „Lebensgefährdern“ die Rede, wie noch zu Beginn der Pandemie. Aber das kommt vielleicht auch wieder.

 

"Wir sind keine Maschinen, die sich unbegrenzt auf Stand-by-Modus stellen lassen, wenn der Betrieb gerade nicht erwünscht ist."

 

Tatsache ist, dass in fast allen Ländern Europas die Fallzahlen steigen. Das kann nicht nur daran liegen, dass der Sommer zu Ende geht und die Abende kühler werden. Viele Menschen halten das Leben im Pandemie-Regime offenbar schlicht nicht mehr aus. Der oft kritisierte Leichtsinn im Urlaub war weniger ein Akt der Rebellion als der Kapitulation. Man kann emotionale Grundbedürfnisse nicht dauerhaft ausknipsen. Wir sind keine Maschinen, die sich unbegrenzt auf Stand-by-Modus stellen lassen, wenn der Betrieb gerade nicht erwünscht ist.


Seit Februar geht es weltweit fast ausschließlich um die Frage, was die Politik alles tun kann, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Bemerkenswert selten wird erörtert, wie viel der Bevölkerung eigentlich zumutbar ist, um ein Virus zu bekämpfen, das nur für wenige ein größeres Risiko darstellt. Die Bürger wurden zur Manövriermasse im Dienste der Seuchenbekämpfung. Eine Zeit lang hat das funktioniert. Aber Solidarität in diesem Ausmaß lässt sich nicht endlos erzwingen.


Es war wohl hauptsächlich Angst, die im Frühling für umfassenden Gehorsam sorgte. Doch selbst wer nur die „Kronen Zeitung“ liest, könnte inzwischen mitbekommen haben, dass Corona weniger gefährlich ist als ursprünglich befürchtet. Die Zahl der Todesfälle ist seit Monaten äußerst niedrig. Auch schwere Verläufe sind selten geworden. Gesundheitsminister
Rudi Anschober gab zwar zu Protokoll, dass er sich wegen der gestiegenen Zahl an Spitalsaufnahmen Sorgen mache. Aber er weiß natürlich, dass von 2200 Intensivbetten aktuell nicht einmal drei Prozent mit Covid-Patienten belegt sind. Es könnte schwierig werden, drastische Maßnahmen noch einmal mit möglichen Kapazitätsengpässen im Gesundheitssystem zu rechtfertigen.


Neu im Angebot der Drohszenarien ist der völlige Zusammenbruch des Tourismus. Wegen der hohen Infektionszahlen gibt es mittlerweile diverse Länder, die von Reisen nach Österreich dringend abraten. Zuletzt verfügte bekanntlich Deutschland eine Reisewarnung für Wien. Natürlich ist das eine Katastrophe für die Branche. Allerdings agiert Österreich in Bezug auf andere Länder auch nicht weniger irrational. Und es fragt sich schon, ob das Mitleid mit hiesigen Hoteliers durchschnittliche 20-Jährige davonabhalten wird, ihre Jugend genießen zu wollen.


Keiner weiß, wie die Pandemie weitergehen und wann sie vorbei sein wird. Für den Fall, dass es den ersehnten Impfstoff doch nicht so bald geben sollte, braucht die Regierung allmählich einen Plan B. Fortwährendes Anziehen der  Daumenschrauben wird auf die Dauer keine Option sein. Es wäre klüger, den Menschen das Gefühl zu geben, dass es nicht in erster Linie ums Drangsalieren geht. Hin und wieder könnte das berüchtigte Corona-Quartett eine Idee präsentieren, die unser aller Leben leichter macht.


Die Wirtschaftsuniversität Wien schaffte es jüngst beispielsweise, mit billigen Schnelltests 3000 Studenten pandemiesicher für eine Vorlesung im Austria Center zu versammeln. Wenn so etwas möglich ist: Warum kam dieser Vorschlag nicht aus dem Gesundheitsministerium oder aus dem Kanzleramt? Und warum denkt nicht schon jemand laut darüber nach, ob das Konzept auch für andere Veranstaltungen oder den Schutz von Pflegeheimen tauglich wäre?


Stattdessen gibt es Blut-, Schweiß- und Tränen-Reden: Alles, was Freude mache, sei gefährlich, erklärte der Kanzler. Danke, aber so kann man nicht leben.

Rosemarie Schwaiger