Sven Gächter

Sven Gächter Sprengstoffwechsel

Sprengstoffwechsel

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Was wissen wir denn über Schweden? In der Regel nicht besonders viel, und das Wenige, das bei einem flüchtigen Brainstorming anfällt, summiert sich unweigerlich zu einem Sample achtbarer Erfolgsgeschichten: Wohlfahrtsstaat, Gleichberechtigung, ABBA, Astrid Lindgren, Ikea, H&M, Volvo, Zlatan Ibrahimovic, Nobelpreis, Henning Mankell – nicht zu vergessen das ballaststoffreiche Knäckebrot und ein nicht weiter verhaltensauffälliges Königshaus. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt über dem EU-Durchschnitt, die Steuerbelastung allerdings auch.

Der Stockholmer Stadtteil Husby ist meilenweit von diesen Benchmarks entfernt: ein tristes Ensemble von Wohnkasernen in Flughafennähe, 11.000 Einwohner, 80 Prozent davon mit Migrationshintergrund. Die Arbeitslosigkeit ist dreimal so hoch wie im Rest des Landes, das Durchschnittseinkommen um 40 Prozent niedriger; jeder Fünfte der 15- bis 19-Jährigen geht weder zur Schule noch einer nennenswerten Erwerbstätigkeit nach. Am Sonntag der Vorwoche kam es zu gewalttätigen Krawallen, nachdem Polizisten einen 69-Jährigen – angeblich aus Notwehr – erschossen hatten. Die heftigen Ausschreitungen dauerten auch in den folgenden Tagen an und weiteten sich auf andere Vororte sowie später auch auf die südschwedische Stadt Malmö aus.

Husby mag ein ausgewählter Härtefall sein – die Frage ist nur, wie lange er eine Ausnahme bleibt. Denn in ganz Europa verdichten sich die Härtefälle. Die hartnäckig anhaltende Wirtschaftskrise schlägt voll auf den Arbeitsmarkt durch, vor allem bei jenen, die erstmals den Zutritt zum Arbeitsmarkt suchen: Jugendarbeitslosigkeit breitet sich nachgerade epidemisch aus. 27 Prozent der Franzosen unter 25 Jahren haben keinen Job; in Irland sind es 30 Prozent, in Zypern 32 Prozent, in der Slowakei 35 Prozent, in Italien und Portugal 38 Prozent, in Spanien 56 Prozent, in Griechenland astronomische 63 Prozent – Tendenz: dramatisch steigend. Halbwegs stabile Hochbeschäftigungsoasen wie Österreich, Deutschland oder die Niederlande fallen positiv aus dem Rahmen, statistisch aber bald kaum mehr ins Gewicht.

Die Eurozone nähert sich mit erhöhtem Tempo einem Punkt, an dem ein Drittel bis zur Hälfte der in den kommenden Jahrzehnten für den finanziellen Fortbestand der Staaten eigentlich mitzuständigen Menschen vom Erwerbsprozess dauerhaft ausgeschlossen bleibt: eine fiskalökonomisch mehr als alarmierende Perspektive – soziologisch und politisch jedoch nicht weniger als verheerend. Die EU umfasst über eine halbe Milliarde Einwohner; ein erheblicher Teil davon hat keine Aussicht auf eine geregelte, geschweige denn gedeihliche Zukunft. Was sollen junge Griechinnen, junge Spanier oder Portugiesen also mit der Gegenwart anfangen, ­außer in stumpfer Frustration Tag um Tag totzuschlagen? Und vor allem: Wie lange begnügen sie sich damit, bloß Tage tot­zuschlagen?

Es grenzt in Wahrheit an ein gruppendynamisches Wunder, dass Europas Ballungsräume nicht großflächig von permanenten bürgerkriegsähnlichen Unruhen erschüttert werden. Das kann sich allerdings jederzeit und schlagartig ändern – Husby ist überall, und zwar längst nicht nur dort, wo notorisch Unterprivilegierte ihre prekären Lebensumstände mit ohnmächtiger Gewalt quittieren. Für die EU steht weit mehr auf dem Spiel als die Stabilität der gemeinsamen Währung, der Staatshaushalte, der Banken, der Pensions- und Gesundheitssysteme – akut gefährdet ist das zentrale Stabilitätskriterium überhaupt: der soziale Friede.

Entsprechende Risikofaktoren sind übrigens durchaus pluralistisch verteilt. Zu den unter 25-Jährigen gesellen sich die über 60-, 70- und 80-Jährigen, die meist immerhin noch in den Genuss einer Rente kommen, aber keineswegs wissen, wie lange und wie ausreichend. Ganz zu schweigen von den Abermillionen im breiten Restalterssegment, die den segensreichen Status ihrer Erwerbstätigkeit zusehends verzweifelt damit bezahlen, für das fiskalische Wohl der chronisch klammen Staaten zu sorgen und ­neben den eigenen Lebenshaltungskosten womöglich auch noch jene ihrer arbeitslosen unter 25-jährigen Kinder zu bestreiten.

Sprengstoff ist laut Wikipedia „eine chemische Verbindung oder eine Mischung chemischer Verbindungen, die unter bestimmten Bedingungen sehr schnell reagieren und dabei eine relativ große Energiemenge in Form einer Druckwelle (oft mit Hitzeentwicklung) freisetzen (Detonation)“. Es erfordert keine fortgeschrittenen Kenntnisse in angewandter Metaphorik, um zu erahnen, dass nicht nur chemische Verbindungen in die Luft gehen können.

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