Sven Gächter: Sündenbockshorn

Der Fall Mesut Özil – oder warum auch ein reicher, streitbarer Fußballer eine Integrationsdebatte anzetteln darf.

Drucken

Schriftgröße

Am 22. Juli 2018, einem strahlend schönen Hochsommersonntag, wurde Deutschland ohne jede Vorwarnung von drei massiven Beben erschüttert. Sie erfolgten, sauber gestaffelt, um 12:52 Uhr, um 15:03 Uhr und um 20:04 Uhr. Ihr Epizentrum ließ sich geografisch nicht lokalisieren, denn es lag im Internet, wo bekanntlich eine besonders fragile Tektonik herrscht. Auslöser der Schockwellen war der Fußballstar Mesut Özil, Weltmeister von 2014, der in drei langen Posts auf Twitter, Facebook und Instagram zu einer beispiellosen Abrechnung ausholte: mit den deutschen Medien, dem deutschen Fußballbund, den deutschen Fans. Seine Einlassungen gipfelten in einem ebenso traurigen wie verbitterten Satz: „Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren.“

Unter normalen Umständen hätte diese Nachrichtenlage bestenfalls ein Saure-Gurken-Zwischenhoch gezeitigt, doch die Umstände sind längst nicht mehr normal. Mesut Özil, gebürtiger Deutscher mit türkischen Wurzeln, ein begnadeter, ansonsten aber nicht weiter charismatischer, geschweige denn kontroversieller Kicker, war zur Reizfigur avanciert, nachdem er sich im Mai für einen PR-Fototermin mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdoğan hergegeben, im Juni gemeinsam mit seinen Kollegen von der Nationalmannschaft ein historisches WM-Debakel in Russland hingelegt und die ganze Zeit über hartnäckig geschwiegen hatte, so als kümmerte ihn die öffentliche Aufregung nicht im Geringsten. Dass sie ihn sehr wohl bekümmerte – und in welchem Ausmaß –, machte der Rundumschlag vom 22. Juli deutlich. In einer Mischung aus Trotz, Larmoyanz und kämpferischer Selbstbehauptung listete Özil die Kränkungen auf, denen er sich in den vergangenen Wochen ausgesetzt sah – und Deutschland hatte plötzlich eine hochemotionale Integrationsdebatte am Hals.

Sie passt in das verstörende Gesamtbild, das Europas offiziöse Musterdemokratie neuerdings bietet. Alle identitätsstiftenden Gewissheiten zerbröckeln wie Ackererde nach sechs Monaten Dürre. Die „große“ Koalition kommt laut Umfragen gerade noch auf eine knappe absolute Mehrheit, die CDU/CSU-Union übt sich in ruinöser Selbstzerfleischung; die Hochglanzmarken der heimischen Wirtschaft – VW, Audi, Mercedes, Deutsche Bank – versinken im Skandalsumpf, und selbst das viel gepriesene Erfolgsmodell Fußball hat sich unversehens ins Abseits geschossen. Dieselben DFB- und „Bild“-Sportfunktionäre, die das Nationalteam in dessen Glanzzeiten gern als Inbild für gelebten, produktiven Multikulturalismus feierten, können sich nun nicht rachgierig genug auf einen willkommenen Sündenbock namens Mesut einschießen.

Im heißen Debattensommer 2018 ist Deutschland endgültig in der gesamteuropäischen Realität angekommen.

Es scheint, als werde das weltweit beneidete Stabilitätswunder Deutschland mit einiger Verspätung, dafür umso heftiger von all jenen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Verwerfungen heimgesucht, die anderswo schon länger an der Tagesordnung sind. Die fast orkanartige Wucht, mit der seit dem zornigen Rücktritt des Nationalspielers Özil eine Integrationsdebatte ausgetragen wird, ist vordergründig zwar der Strahlkraft des Massenmagneten Fußball geschuldet, legt in Wahrheit aber Denk- und Verhaltensmuster frei, die weit über Deutschland – und weit über den Sport – hinaus weisen.

Es geht um ganz grundsätzliche Fragen: Was bedeutet Integration? Wer darf darüber urteilen, ob, wann und wie weit sie als erfolgreich bezeichnet werden kann? Und wem steht es warum zu, sie für gescheitert zu erklären? Auch die Frage, ob einer wie Özil überhaupt befugt sei, eine solche Diskussion loszutreten, wurde gestellt und sofort beantwortet – von keinem Geringeren nämlich als SPD-Außenminister Heiko Maas, der mit lehrbuchreifer Süffiianz erklärte, er glaube nicht, „dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland“. Ohne es vielleicht böswillig zu beabsichtigen, bediente Maas damit gleich zwei stammtischtaugliche Ressentiments: Er schürte einerseits den Neidkomplex und verknüpfte ihn nahtlos mit der Metapher des Fahnenflüchtigen.

Wenn selbst ein weltoffener, reflektierter Berufspolitiker, also das Gegenteil eines dumpfen AfD-Hetzers, in den Billigpopulismus abdriftet, ist es um die Integrationsfähigkeit in Deutschland (und anderswo) nicht allzu gut bestellt. „Man kann Özil kritisieren für seine bewusste, keinesfalls naive, sondern sehr eindeutige Wahlkampfhilfe (für Erdoğan, Anm.) samt hanebüchener Ausreden dazu – und sich gleichzeitig mit ihm solidarisieren, weil er rassistisch attackiert wurde und wird“, schreibt der „Spiegel“-Kolumnist Sascha Lobo.

Im heißen Debattensommer 2018 ist Deutschland endgültig in der gesamteuropäischen Realität angekommen. Die letzten schönen Illusionen sind geplatzt – nicht weil irgendein reicher, beleidigter Fußballer mit Migrationshintergrund die Zugehörigkeit zu einer Sinn- und Wertegemeinschaft aufkündigt, sondern weil sein Beispiel zeigt, dass am Ende des Tages immer noch jede Form von Migration als Hinderungsgrund ausgelegt wird.

Mehr zu diesem Thema:

Sven   Gächter

Sven Gächter