Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Bis zur Vergasung

Bis zur Vergasung

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Kürzlich erzählte ein Schauspieler auf einer Gesellschaft von einem Theaterstück, in dem er gerade mitspielt: „Da wird selbst die kleinste Szene bis zur Vergasung geprobt, bis auch das letzte Wort und die letzte Geste stimmt.“ Die Partygäste schwiegen betreten. Sie vermeinten zu wissen, dass die Redewendung „bis zur Vergasung“ politisch äußerst inkorrekt ist, weil sie sich doch auf die Judenvernichtung beziehe. Und sie hatten Unrecht: „Bis zur Vergasung“ fand schon Jahre vor dem Holocaust in der Alltagssprache Verwendung. Die lange Zeit durchaus gebräuchliche Phrase geht auf Ereignisse zurück, die in ihrer Barbarei der Nazi-Tötungsmaschinerie nur wenig nachstehen: auf den Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg.

Die Geburtsstunde dieser Massenvernichtungswaffe schilderte ein britischer Militärgeistlicher, der bei der sogenannten Zweiten Ypernschlacht am 22. April 1915 anwesend war, in der die deutsche 4. Armee die Stellungen der Alliierten in Flandern zu durchstoßen versuchte: „Da sahen wir plötzlich etwas, was unsere Herzen aufhören ließ zu schlagen. Eine grüngelbe Wolke war auf die französischen Soldaten zugekommen und hatte alles, was sie berührte, zerstört und den ganzen Pflanzenwuchs vernichtet. Die Franzosen taumelten uns entgegen, sie waren blind, sprachlos vor Todesangst, sie husteten, sie keuchten, ihre Gesichter waren tiefrot und hinter ihnen, in den gasgefüllten Gräben, stellten wir fest, dass sie hunderte von toten und sterbenden Kameraden zurückgelassen hatten.“

Diese Schilderung kam mir in den Sinn, als ich vergangene Woche die erschütterten Fotos der toten Kinder sah, die – so scheint es – in einer Damaskus-Vorstadt von der Explosion mit Giftgas gefüllter Raketen im Schlaf überrascht worden waren. Und mir wurde so recht bewusst, dass die Vergasung als Kampfmittel nicht die Erfindung irgendeines unzivilisierten Drittwelt-Despoten à la Bashar al-Assad ist, sondern schon vor knapp 100 Jahren im Krieg zwischen den am weitesten entwickelten europäischen Nationen eingesetzt wurde.

Ypern 1915 war erst der Anfang. Die Deutschen hatten mit den Chemiewaffen begonnen. Die Alliierten rüsteten nach. Und der Gaskrieg eskalierte. Auch der österreichische Oberbefehlshaber, der glücklose, inzwischen selig gesprochene Kaiser Karl, ließ 1917 an der Isonzo-Front Giftgasgranaten in die feindlichen Reihen feuern. Hunderttausende, wenn nicht Millionen fanden einen qualvollen Erstickungstod auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges.

Der Schrecken saß tief. Im Zweiten Weltkrieg wurde das international dekretierte Verbot von Chemiewaffen zumindest auf den europäischen Kriegsschauplätzen respektiert. Umso systematischer war die Vergasung von Zivilisten durch Deutschland: In den Konzentrationslagern ermordete das Hitler-Regime bekanntlich Millionen Menschen – allen voran europäische Juden – durch das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B.
In Übersee führten die europäischen Mächte auch nach 1918 Krieg mit tödlichen Wolken: die Briten 1919 gegen die irakische Bevölkerung, die Italiener in den 1920er- und 1930er-Jahren in ihren Eroberungskriegen in Libyen und Äthiopien. 1924 wollten auch die Spanier (mit französischer und deutscher Unterstützung) in Nordafrika bei der Niederschlagung von Berberaufständen auf Chemie nicht verzichten.

Nach 1945 wurde schließlich die Ächtung von Chemiewaffen völkerrechtlich immer verbindlicher. Dass der kriegerische Einsatz von Giftgas als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden muss, kodifizierte und ratifizierte die internationale Staatengemeinde in verschiedensten Verträgen und Abkommen.

Und dennoch: Als Saddam Hussein gleich zu Beginn des Krieges gegen Khomeinis Iran im Jahre 1980 gezielt speziell entwickelte Kanister mit chemischen Kampfstoffen über feindlichen Stellungen abwarf und durch Giftgas im Verlauf des neunjährigen Waffengangs 100.000 iranische Soldaten und ungezählte Zivilisten ums Leben kamen, war internationale Kritik kaum zu vernehmen. Saddam, der später zum Erzfeind der USA werden sollte, hatte damals in seinem Krieg gegen die Perser die Unterstützung der Amerikaner. Auch die faktische Vergasung einer ganzen Stadt aus der Luft, das irakische Bombardement der kurdischen Ortschaft Halabdscha im Jahre 1988, wurde von der westlichen Politik ohne großen Aufschrei der Entrüstung zur Kenntnis genommen. Einer der großen weltpolitischen Skandale der vergangenen Jahrzehnte.

Angesichts der insgesamt furchtbaren Rolle, die der Westen in dieser kurzen 100-jährigen Geschichte des Gaskrieges spielte, hat er nun einiges gutzumachen. Wir haben die Bilder des Grauens aus Syrien gesehen, und alles spricht dafür, dass das Regime in Damaskus die todbringenden Gift-raketen auf den Weg brachte. Noch einmal – wie seinerzeit beim irakisch-iranischen Krieg – darf die Welt nicht tatenlos zusehen, wie ein skrupelloser Diktator zu den abscheulichsten Kampfmitteln greift.
Bei allen politischen, strategischen und völkerrechtlichen Überlegungen, die man anstellen muss: Ein Militärschlag gegen Assad ist jedenfalls gerechtfertigt. Und nicht nur moralisch.

Damit würde ein wichtiges, ganz reales Zeichen gesetzt: dass zumindest im 21. Jahrhundert Krieg bis zur Vergasung absolut nicht akzeptiert wird. Und nicht ungestraft bleibt.

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