Warum man, wenn es um die Ukraine geht, weniger von westlichen Fehlern reden sollte

Georg Hoffmann-Ostenhof: Der Krake

Warum man, wenn es um die Ukraine geht, weniger von westlichen Fehlern reden sollte

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Es sind vor allem die Fehler des Westens, die erst die bedauerliche Lage im Osten Europas produziert hätten. So hört man immer häufiger in den unzähligen Ukraine-Diskussionen und -Talkshows. Natürlich sei die Krim-Annexion völkerrechtlich nicht in Ordnung, wird da immer wieder betont, um aber sogleich darauf hinzuweisen, dass USA, NATO und EU, wenn es um internationale Gesetze geht, ja auch nicht gerade zimperlich seien.

Zunächst wirkt diese Argumentation sympathisch: Die Kritik richtet sich gegen die „eigene Seite“ des Konflikts, den Westen, und scheint vom Bemühen um Objektivität geleitet zu sein.

Das Narrativ geht folgendermaßen: Nach den chaotischen 1990er-Jahren hat Wladimir Putin dem postkommunistischen Russland wieder Stabilität gebracht. Dass heute der Kreml-Chef der Welt sein Hardliner-Gesicht zeigt, ist Schuld des Westens: Man hat die geopolitischen Interessen Moskaus ignoriert, antirussische Revolten am Rand des Landes geschürt und die NATO bis an die russischen Grenzen erweitert. Da soll man sich nicht wundern, dass sich die Russen bedroht fühlen, sich zu wehren beginnen und der Reform- und Demokratisierungsprozess stockt.

Nun wäre es vermessen, westliche Fehler zu leugnen. Stellt sich bloß die Frage: Worin bestanden diese? Und welchen Einfluss hatten sie auf die Entwicklung der russischen Politik?

Ein jüngst erschienenes, viel beachtetes Buch der US-Politologin Karen Dawisha mit dem Titel „Putin’s Kleptocracy: Who Owns Russia“ lässt den Schluss zu, dass die Politik des Westens gegenüber Moskau nur marginal zur jetzigen Katastrophe beigetragen hat.

Die Autorin erzählt im Detail die Kriminalgeschichte des Putinismus: In der Wendezeit der späten 1980er-Jahre brachte der mächtige Geheimdienst KGB, der das Ende des Regimes nahen sah, viele Milliarden Rubel (und Dollar) des Staates und der Kommunistischen Partei „in Sicherheit“ und verteilte das Geld nach dem Ende der Sowjetunion an von Partei- und KGB-Leuten gemanagte Banken und Unternehmen. Dieses Netzwerk, das sich auch auf die Mafia-Verbindungen des sowjetischen Geheimdienstes stützte und von Karen Dawisha minutiös beschrieben wird, bildete die Grundlage des neuen russischen Kapitalismus.

Putin, war von Anfang an, zunächst als Agent in Dresden, dann als Sankt Petersburger Politiker und schließlich als KGB-Chef, im Zentrum dieses Systems. Als er 2000 Präsident wurde, galt er als prowestlicher Wirtschaftsliberaler, der die gesetzlose Oligarchen-Herrschaft der 1990er-Jahre beseitigen und staatliche Legalität herstellen wollte. Stattdessen aber, analysiert die Autorin, „transformierte er eine Oligarchie, die vom Staat unabhängig und stärker als dieser war, in eine Struktur, in der die Oligarchen den staatlichen Bürokraten dienen, die ihrerseits die totale ökonomische Kontrolle im Lande errangen – und sich nun gemeinsam mit den Oligarchen in unvorstellbarer Weise bereichern“. Und diese neuen Milliardäre sind fast ausschließlich alte KGB-Spezln oder Freunde aus Putins Sankt Petersburger Zeit. Das Resultat: 110 Individuen kontrollieren nach Angaben der Autorin 35 Prozent des russischen Reichtums.

So sei Wirklichkeit geworden, wovor der Architekt der Russischen Marktreform Yegor Gaidar bereits Mitte der 1990er-Jahre gewarnt hatte: „Eine Verbindung von Mafia und bürokratischer Korruption kann ein Monster kreieren, das keinesgleichen in der russischen Geschichte hat – einen allmächtigen Mafiastaat, einen veritablen Kraken.“

In dieser Lesart der jüngsten russischen Geschichte haben die Sowjetgeheimdienstler seit den späten 1980er-Jahren intensiv daran gearbeitet, wieder die Macht zu ergreifen. Und wenn die These von Frau Dawisha, dass die alten KGB-Dunkelmänner mit ihrem Paten Putin von Anfang an die heutige Autokratie zum Ziel hatten, auch ein wenig verschwörungstheoretisch daherkommt – mit einiger Plausibilität kann man annehmen: Mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben Putin und seine Seilschaft nie wirklich etwas am Hut gehabt. Und mit dem Zerfall des Sowjet-Imperiums wollten sie sich nie abfinden.

So gesehen war der grundlegende Fehler des Westens weniger der Mangel an Einfühlungsvermögen und Freundlichkeit gegenüber Russland und Putin – im Gegenteil: Zu lange hat man an der naiven Einschätzung festgehalten, dass der KGB-Veteran im Kreml ein zwar autoritäre, aber letzen Endes doch engagierter Reformer sei. Man hat nicht gesehen, dass die systematische Einschränkung jeglicher Freiheiten und Rechte, aber auch die jüngste wütend-antiwestliche, neoimperiale und reaktionäre Wende seiner Politik nur eines soll: die Herrschaft einer kleinen Clique, die sich Russland unter den Nagel gerissen hat, zu sichern. Wenn es sein muss, auch mit militärischen Mitteln.

Die bei uns so häufig gezeigte und sich als objektiv und vernünftig gerierende Äquidistanz vis-à-vis dem Konflikt zwischen Westen und Russland entpuppt sich letztlich als zutiefst unmoralisch – und ungerecht: vor allem gegenüber den Hunderttausenden Ukrainern, die auf dem Maidan wochenlang in bitterer Kälte ausharrten und sogar ihr Leben für eine demokratische und europäische Zukunft ihres Landes riskierten.

Wladimir Putin ist es nicht zuletzt mit seiner Desinformationsmaschinerie gelungen, die Russen nationalistisch aufzuganseln. Ruhig schlafen dürfte er dennoch nicht: Wenige Monate vor Ausbruch der Ukraine-Krise gingen die Moskauer massenhaft auf die Straße und skandierten „Putin, Dieb, Putin, Dieb“. Da mögen seine Landsleute momentan hinter ihm stehen. Letzten Endes wissen sie aber ganz genau, mit wem sie es zu tun haben.

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Georg Hoffmann-Ostenhof