Warum die Benya-Formel eben nicht Wohlstand kostet
Die „lässige Kaltschnäuzigkeit“, mit der Franz Schellhorn in profil die Benya-Formel attackiert, zeugt nicht nur von Ignoranz gegenüber der Lebensrealität arbeitender Menschen. Sie offenbart auch ein bemerkenswertes Unverständnis makroökonomischer Zusammenhänge. Die in den 1970er-Jahren etablierte Benya-Formel sieht vor, dass sich die Löhne an der mittelfristigen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung und der Inflation des Vorjahres orientieren. Hinter dieser scheinbar simplen Formel, die als Richtschnur für eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik dient, verbergen sich mehrere durchaus wünschenswerte makroökonomische Eigenschaften.
Erstens wirkt die Formel in Phasen abrupter Teuerung, wie wir sie 2022 erlebten, preisdämpfend. Die vergangene Inflation lag in jenem Jahr deutlich unter der damals aktuellen Teuerung. Die Gewerkschaften nahmen auf Grundlage der Formel hohe Reallohnverluste in Kauf und trugen damit aktiv dazu bei, den Inflationsdruck zu begrenzen. Die Folgen des Preisschocks wurden somit zeitlich gestreckt – nicht zuletzt, weil danach ein Ausgleich der Reallohnverluste erfolgte. Dass Österreich dennoch eine der höchsten Inflationsraten im Euroraum verzeichnete, lag wohl an fehlenden staatlichen Preiseingriffen und der denkwürdigen Toleranz gegenüber jenen Unternehmen, die für alle erkennbar Preise über ihre Kosten hinaus erhöhten.
Zweitens hilft die Benya-Formel, in wirtschaftlichen Abschwungphasen die Kaufkraft zu stabilisieren. Höhere Löhne in Krisenzeiten stärken schließlich den Konsum. Natürlich sind, wie Schellhorn zu Recht anmerkt, steigende Lohnkosten für exportorientierte Branchen wie die Industrie eine Herausforderung. Doch genau hier greift die dritte Stärke der Benya-Formel: Sie stellt sicher, dass die Industrie im internationalen Wettbewerb bestehen kann. Denn die Lohnentwicklung orientiert sich am durchschnittlichen Produktivitätswachstum über alle Branchen hinweg. Während die Industrie in den letzten 25 Jahren inflationsbereinigt Lohnzuwächse von rund 20 Prozent verzeichnete – entsprechend dem Produktivitätszuwachs der Gesamtwirtschaft –, stieg ihre eigene Produktivität im selben Zeitraum um beeindruckende 60 Prozent. Die Industrie hat also überproportional von der Benya-Formel profitiert.
Umso unverständlicher ist es, dass gerade ihre Vertreter heute von dieser bewährten Regel abweichen wollen. Zwischen 1999 und 2023 hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, gemessen an den Lohnstückkosten, gegenüber sämtlichen Handelspartnern leicht, gegenüber den EU-Ländern sogar deutlich verbessert. Erst in der Zeit danach kam es zu einer Verschlechterung. Wer heute angesichts rückläufiger Produktivität eine Senkung der Reallöhne fordert, sollte auch erwähnen, dass die Produktivitätsgewinne in den Jahren zuvor beträchtlich waren – damals blieb der Ruf der „Denkfabriken“ nach überproportional steigenden Löhnen aus.
Die ab Ende 2022 einsetzende Industrierezession hat viele Ursachen: die restriktive Geldpolitik der EZB, hohe Energiepreise und ein signifikanter Rückgang an Aufträgen, insbesondere aus dem Ausland. Selbst das von der Industriellenvereinigung finanzierte Magazin „Selektiv“ berichtete, dass österreichische Industriebetriebe den Auftragsmangel mit Abstand am häufigsten als Produktionshemmnis nannten. Auch das Fehlen einer industriepolitischen Strategie – an der nun gearbeitet wird – war sicherlich nicht hilfreich.
Besonders irritierend ist Schellhorns Vorschlag, die Lohnverhandlungen stärker auf die Betriebsebene zu verlagern. Das ist keine Modernisierung. In Wahrheit geht es darum, die kollektive Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer:innen zu schwächen, Löhne zu fragmentieren und einen Unterbietungswettbewerb zu fördern. Leidtragende wären jene Beschäftigte, die in weniger gut organisierten Betrieben arbeiten. Der ÖGB lehnt diese Logik entschieden ab. Kollektivverträge schützen Beschäftigte, sichern faire Arbeitsbedingungen und verhindern Lohn- und Sozialdumping.
Zur Person
Helene Schuberth ist Chefökonomin und Geschäftsführerin des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB).